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Es bedeutet keinen Sieg, Gebiete durch Luftangriffe zu erobern, in denen Zivilisten leben: Aleppo, 9.7.2014

Foto: Reuters/Khatib

Der schreckliche Krieg in Syrien wird schlimmer und hat auch Folgen jenseits der Grenzen. Eine kühle Rechnung scheint aufzugehen: Dass nur wenig getan werden kann, außer die Konfliktparteien zu bewaffnen und dabei zuzusehen, wie der Konflikt weitergeht. Die internationale Gemeinschaft darf die Menschen in Syrien und in der Region trotz der nicht enden wollenden Wellen der Gewalt nicht aufgeben.

Die Opferzahl beträgt inzwischen wohl weit mehr als 150.000. Gefängnisse und behelfsmäßige Internierungslager sind überfüllt mit Männern, Frauen und sogar Kindern. Massenexekutionen und unaussprechliche Foltermethoden sind weit verbreitet. Die Menschen sterben auch an Hunger und an früher sehr selten vorkommenden Infektionskrankheiten. Ganze Stadtzentren und einige der bedeutendsten architektonischen und kulturellen Welterbestätten liegen in Schutt und Asche. Das heutige Syrien ist zunehmend ein gescheiterter Staat.

Die Vereinten Nationen haben hart daran gearbeitet, die tieferliegenden Gründe und die verheerenden Folgen des Konflikts anzugehen. Unsere humanitären Anstrengungen sorgen dafür, dass Leben gerettet werden und das Leid gemildert wird. Aber unser grundlegendes Ziel – das Ende des Konflikts – bleibt unerfüllt. Die trostlosen Aussichten auf Frieden haben sich weiter verschlechtert, da im Irak religiöse Spannungen und Gewalt aufflackern. Der Zusammenhalt und die Intaktheit zweier wichtiger Staaten – nicht nur einem – stehen in Frage.

Die folgenden sechs Punkte können einen grundsätzlichen und umfassenden Weg nach vorne weisen:

Erstens muss die Gewalt aufhören. Es ist von fremden Mächten unverantwortlich, weiter die Konfliktparteien in Syrien militärisch zu unterstützen, die Grausamkeiten verüben und schamlos grundlegende Menschenrechte und das Völkerrecht verletzen. Ich habe den Sicherheitsrat aufgefordert, ein Waffenembargo zu verhängen. Beide Seiten müssen sich wieder am Verhandlungstisch gegenübersitzen. Wie viele Menschen müssen noch sterben, bis sie dazu bereit sind?

Zweitens müssen die Menschen geschützt werden. Die UNO leitet weiterhin eine riesige humanitäre Hilfsaktion. Aber die Regierung verhängt weiter skrupellose Zugangsverbote. Sie lässt medizinische Produkte von Hilfskonvois abladen und lässt Menschen, die sie als Sympathisanten der Opposition betrachtet, absichtlich verhungern und kollektiv bestrafen. Einige Rebellengruppen haben genauso gehandelt. Hinzu kommt, dass die internationale Gemeinschaft nur knapp ein Drittel des Geldes bereitsgestellt hat, das für den Hilfseinsatz gebraucht wird. Ich fordere außerdem ein Ende der Belagerungen und ungehinderten humanitären Zugang über alle Fronten und internationalen Grenzen hinweg.

Mutige Anstrengungen

Drittens muss ein ernsthafter politischer Prozess beginnen. Die Konfliktparteien haben systematisch die pausenlosen Initiativen zweier der weltweit wichtigsten Diplomaten, Kofi Annan und Lakhdar Brahimi, blockiert. Die Präsidentschaftswahlen Anfang Juni waren ein weiterer Schlag und haben noch nicht einmal die Mindeststandards für Wahlen erfüllt. Der neue Sonderbeauftragte Stafan de Mistura soll eine politische Lösung und ein Übergangsszenario für ein neues Syrien verfolgen. Regionalmächte besitzen eine besondere Verantwortung, um diesen Krieg zu beenden. Ich begrüße die jüngsten Kontakte zwischen Iran und Saudiarabien und hoffe, dass sie Vertrauen schaffen und einen zerstörerischen Wettbewerb in Syrien, im Irak, im Libanon und anderswo beenden können. Gruppen der Zivilgesellschaft in Syrien unternehmen mutige Anstrengungen, um das Band, das die Gesellschaft zusammenhält, nicht zerreissen zu lassen und sie halten die Kanäle der Kommunikation und Solidarität offen.

Viertens müssen schwere Verbrechen geahndet werden. Letzten Monat scheiterte im Sicherheitsrat eine Resolution, durch die der Konflikt an den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) verwiesen werden sollte. Ich fordere die Mitgliedsstaaten, die Nein zum ICC sagen, aber für die Strafverfolgung sind, dazu auf, glaubhafte Alternativen zu benennen. Das syrische Volk hat ein Recht auf Gerechtigkeit und Handeln gegen Straflosigkeit.

Fünftens muss die Zerstörung der Chemiewaffen in Syrien abgeschlossen werden. Die Vereinten Nationen und die Organisation für das Verbot chemischer Waffen haben gemeinsam daran gearbeitet, das ehemals große Arsenal des deklarierten Materials aus dem Land zu bringen, oder es zu vernichten. Für diese große Aufgabe, die in einer aktiven Kriegszone zu leisten war und die nun an verschiedenen Orten außerhalb Syriens beendet werden wird, haben viele Mitgliedsstaaten wichtige Ressourcen geliefert. Während in Syrien fast nur mit herkömmlichen Waffen getötet wird, war es wichtig, die weltweit gültige Norm zu stärken, die die Produktion und die Nutzung chemischer Waffen ächtet.

Sechstens muss die regionale Dimension des Konfliktes angegangen werden, auch die Bedrohung durch Extremisten. Auf beiden Seiten sind ausländische Kämpfer beteiligt, was  zu noch mehr Gewalt und sektiererischem Hass führt. Weder sollten wir die Dämonisierung der syrischen Regierung blind akzeptieren, die die gesamte Opposition als Terroristen verunglimpft, noch sollten wir vor der realen Bedrohung durch Terroristen in Syrien unsere Augen verschließen. Die Welt muss gemeinsam dafür sorgen, dass die „Al-Nusra Front“ und die Miliz „Islamischer Staat im Irak und in (Groß-)Syrien“ (ISIS) nicht weiter finanziert oder anderweitig unterstützt werden. Die ISIS ist auch eine Bedrohung für die Menschen im Irak. Es ist entscheidend, dass politische wie religiöse Führer in der Region zur Zurückhaltung aufrufen und eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt verhindern.

Basis für künftige Konflikte

Im Moment ist das größte Hindernis, den Krieg in Syrien zu beenden, die Ansicht, dass er militärisch gewonnen werden könnte. Ich weise die momentane Sicht zurück, dass die syrische Regierung „gewinnt“. Es bedeutet keinen Sieg, Gebiete durch Luftangriffe zu erobern, die dicht besiedelt sind und in denen Zivilisten leben. Es bedeutet keinen Sieg, Menschen in den Hunger zu treiben, bis sie sich ergeben. Selbst wenn eine Seite kurzfristig die Oberhand haben wird: Der verheerende Preis wird sein, dass so die Grundlage für künftige Konflikte bereits gelegt ist.

Gefährliche, religiös motivierte Spannungen, massive Flüchtlingsbewegungen, tägliche Grausamkeiten und wachsende Instabilität machen den Krieg in Syrien zu einer globalen Bedrohung. Alle Werte, für die wir stehen, und alle Gründe, weshalb die Vereinten Nationen existieren, sind im heutigen Syrien in Gefahr. Es ist schon längst Zeit für die internationale Gemeinschaft – besonders für den Sicherheitsrat – der eigenen Verantwortung nachzukommen. (Ban Ki-moon, DER STANDARD, 11.7.2014)