Er war kompromisslos radikal und widerständig bis zuletzt – der jüdische Schriftsteller, Dichter, Anarchist und Antifaschist Erich Mühsam. Er war Querulant im Kontext seiner Zeit, übte zivilen Ungehorsam, pfiff auf Konventionen. Er liebte Männer wie Frauen.
Geboren in ein bürgerliches jüdisches Elternhaus im April 1878 in Berlin, wächst Mühsam in Lübeck auf. Er denkt schon früh politisch – und hadert mit den sozialen Verhältnissen, dem Elend der Massen, der Unterdrückung der Frauen. Er stellt die herrschende Gesellschaftsstruktur radikal in Frage, will ihr an die Wurzel gehen, versucht sie zu verändern. Mühsam fordert das System heraus, wo er kann. Zeitlebens verzichtet er dabei auf Gewalt, ist Antimilitarist, wird aber mehrfach wegen politischer Straftaten verurteilt.
Agitator und Aktivist
Als Agitator und Aktivist ist er nach dem ersten Weltkrieg an der Münchener Räterepublik beteiligt, die die freie Föderation und Selbstverwaltung an die Stelle staatlicher Strukturen und Institutionen rückt. Anders als viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen überlebt er die gewaltsame Zerschlagung der Räterepublik am 2. Mai 1919. Doch er wird wegen Hochverrats zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt, von denen er fünf absitzt. Der Gesinnungswandel bleibt aus – nach der Entlassung aus der Haft gibt Mühsam die anarchistisch-antifaschistische Zeitschrift "Fanal" heraus.
"Sich fügen heißt lügen", sagt er
Die kommunistische Kritik am Linksradikalismus als kleinbürgerlich – Lenin nannte den Radikalismus die "Kinderkrankheit im Kommunismus" –, sie trifft auch Mühsam: Seine kommunistischen Genossen in der Räterepublik stoßen sich daran, dass er die Freiheit des Individuums über die des Kollektivs stellt. Doch auch anarchistische Gefährten gehen hart mit ihm ins Gericht. Als sich Mühsam, um dem Erstarken der Nazis Einhalt zu gebieten, mit kommunistischen Antifaschisten zusammenschließt, wenden sich viele anarchistische Weggefährten von ihm ab.
Mit der Sozialdemokratie hat Mühsam ohnehin nichts am Hut – ihr widmet er ein Lied über Revoluzzer, die die Revolution nur spielen. Seine in einem Vers manifestierte Überzeugung, wonach sich zu fügen lügen heiße – sie passt nicht zum parteiischen Pragmatismus mancher Sozialdemokraten.
Geschrieben wie ein Wilder
Die Nationalsozialisten haben den jüdischen Anarchisten und Antifaschisten Mühsam freilich von Anbeginn im Visier. Wenige Tage nach der Machtergreifung 1933 verhaftet ihn ein Trupp der SA, 1934 wird er ins Konzentrationslager Oranienburg gebracht. Die Nazis ermorden ihn am 10. Juli 1934 – nach vielen Tagen schwerer Folter. "Dass ich Dich lieb habe, ist keine Neuigkeit" hatte er seiner Frau noch aus dem Konzentrationslager geschrieben. In Berlin erinnert heute ein Ehrengrab an Erich Mühsam, vor dem Buddenbrookhaus in Lübeck ein "Stolperstein".
Mühsam hat geschrieben wie ein Wilder – was den Umfang seines Werks betrifft. Er verfasste unzählige Gedichte, Dramen, Liedtexte. Das Spiel mit der Sprache war ihm die Fortsetzung der Freiheit mit anderen Mitteln. Zwischen 1910 und 1924 entstanden seine Tagebücher; 35 von insgesamt 42 Heften sind erhalten. Der Berliner Verbrecher Verlag hat sie editiert und online verfügbar gemacht – ohne Bezahlschranke. (Lisa Mayr, derStandard.at, 10.7.2014)