"Unser Lebenszweck ist doch eigentlich, die Welt anzustaunen mit all ihren Schönheiten." August Macke war gerade einmal 19 Jahre alt, als er das Staunen zur Lebensaufgabe bestimmte. Seitdem sind mehr als 100 Jahre vergangen, und die Wow-Effekte des Lebens haben sich verändert. Im Jahr 2014 lassen 19-Jährige sich vor allem von Virtuellem und Technik beeindrucken, von Ultra-HD-Auflösung, Datenuhren, Computerbrillen und von der ersten funktionsfähigen Pistole aus dem 3-D-Drucker. Macke hingegen hatte das Wundersame der Natur im Sinn.

Er konnte lange vor einem Grashalm, dessen zarte Spitzchen zwischen schweren Steinen hervordrangen, stehen und tiefbewegt dieses Wunder anstaunen. Auf solche Ideen kommen heute nur noch Meditationsschüler aus dem Fortgeschrittenenkurs. Kinderäugiges Staunen ist auf der Strecke geblieben. Zeit, es mal wieder zu üben - zusammen mit Macke. In Kandern nehmen wir die Witterung des Malers auf und spazieren durch sein altes Revier.
Rundweg mit Macke-Motiven
Das hiesige Tourismusamt hat dem berühmten Expressionisten zu Ehren einen August-Macke-Rundweg angelegt. Dieser, so lockt ein Werbeflyer, führt zu Plätzen und Motiven, die für Leben und Werk des Künstlers eine wichtige Rolle spielten. Kandern ist klein und übersichtlich. Trotzdem rennen wir kurz nach unserer Ankunft fast an einer der wichtigsten Stationen des Rundwegs vorbei. Das Haus Bahnhofstraße 2 buhlt mit seiner blassgelben Fassade auch nicht gerade um Aufmerksamkeit. Dabei war es einst das größte Hotel am Platz: Gasthof Krone - das Reich von Auguste Macke. Die vierzehn Jahre ältere Schwester des Künstlers hatte den Kronenwirt Karl Giss geheiratet und später ihre Mutter Florentine zu sich nach Kandern geholt.

Macke, der eigentlich in Bonn wohnte, besuchte die beiden oft und genoss die badische Boheme-Variante. Boheme, weil er sich in Kandern mit Leidenschaft seiner Malerei widmen konnte, obwohl sie ihm nicht zum Broterwerb reichte. Badisch, weil die kreative Freiheit ihn nicht zum exzentrischen Gesellschaftskritiker werden ließ. Macke blieb bürgerlich, genoss die Fürsorge von Mutter und Schwester, fuhr die Kronen-Gäste mit der Kutsche durch das Markgräfler Land und entdeckte dabei immer neue Motive. "Erde, Gras, Mist, junge Kälber, Köchinnen, kannst du dir etwas Schöneres denken?", schwärmte er in einem Brief an seine spätere Ehefrau Elisabeth Gerhardt.
Die Honoratioren der Stadt ließen Mackes Figuren übermalen
Derart vom Südschwarzwald inspiriert, durfte Macke den Saal des Gasthofs Krone ausmalen. Die Freude daran lag aber ausschließlich auf seiner Seite. Zu grotesk, entschieden die Honoratioren der Stadt und ließen Mackes anrüchige Figuren wieder übermalen. Einen echten August-Macke-Saal hätte Kandern heute haben können, nicht auszudenken.

Immerhin bleibt der Stadt das Bild, das Macke von seinem Künstlerfreund Claus Cito auf dem Dach des Krone-Gasthofs gemalt hat. "Man sieht von da aus in die Gärten und die sämtlichen Berge. Des Nachts werden wir dort liegen und die Sterne betrachten", beschrieb Macke die Aussicht vom Dach. Dort hinauf würden wir uns auch gern begeben, um Kandern aus der Künstlerperspektive sehen. Das ist aber nicht erlaubt und bildet ohnehin keinen Teil des Rundgangs. Als Trost gäbe es im Erdgeschoß des einstigen Krone-Hofs gegrillten Oktopus beim Griechen.
Staunen als Thema
Es ist ein warmer Frühsommertag, die Gäste essen draußen auf der Restaurantterrasse, zeigen sich Internetfilmchen auf ihren Smartphones, rauchen, lachen. Macke hätte das gemocht. Er war ein lockerer und kommunikativer Typ. Leben, Lebendigkeit und Leichtigkeit - das waren seine Themen, das und das Staunen.
An Laternenpfählen und Straßenschildmasten weisen uns kleine Zeichen die Richtung, manche von einem schadenfrohen Fremdenverkehrsirreführer weit über Kopfhöhe angebracht, so dass nur ein zufällig gen Himmel erhobener Blick die Wegweiser entdeckt. Jetzt schickt uns ein Hinweisschildchen runter von der Straße.

Ein schmaler, von hohen Hecken gesäumter Pfad führt auf eine amselumflötete Wiese. Kanderns Häuser halten Distanz. Sie machen einen weiten Bogen um den grünen Rasenflecken, und als Puffer zwischen Bauten und Natur schütten Hinterhöfe die ganze Besinnlichkeit von Gartenzäunen und Gänseblümchen über die Rundwegswanderer aus.
Wir haben Station vier und fünf des Rundwegs gefunden. Hier hat Macke 1907 Wäsche im Garten in Kandern und vier Jahre später Kirche in Kandern gemalt. Tafeln mit den Abbildungen beider Werke fordern den Vergleich zwischen Kunst und Realität. Viel verändert hat sich in den letzten 100 Jahren nicht. Immer noch das gleiche Ensemble von Kirche, Gärten und Wohnhausdächern. Sogar eine Wäscheleine ist gespannt.
Das vom Himmel gelogene Blau, das Dschungelgrün
Die fast unveränderten Formen von Mackes Motiven erkennen wir sofort wieder, ihre Farben jedoch nicht, alles ein bisschen zu bunt. Dann passiert etwas Seltsames. Mit geschlossenen Augen stehen wir auf der Wiese, halten der Sonne die Nasen entgegen und hören dem lauen Lüftchen zu, wie es sanft Hecken und Sträucher kämmt. Als wir die Augen wieder öffnen, stimmen Mackes Farben - das vom Himmel gelogene Blau, das Dschungelgrün, die purpurnen Schatten und die wüstensandgelben Fassaden. Klar, dass Franz Marc seinen Freund Macke "August von der Farbe" genannt hatte.
Macke färbte die Welt, ließ Kandern einmal quer durch den Regenbogen fallen und in Komplementärfarben rauschen, weil er nicht bloß malte, was er sah, sondern auch, was er dabei empfand. Er konnte Kandern ins Herz schauen. Das Resultat dieses tiefen Blicks war eine Liebeserklärung: "Wenn ich einmal solche Größe in meinen Bildern erreichen könnte, wie in diesen Bäumen, diesen Bergen und diesen Menschen liegt", schrieb Macke während eines Aufenthaltes in Kandern. "Einstweilen ist es mir wie einem, der den Kern der Welt gesehen hat, und der sich nun die Augen zuhalten muss, damit das Gesicht nicht wieder zerstört wird durch Kleines."
Vom "Kern der Welt" erzählt der Reiseleiter nichts, der eine Seniorengruppe gerade ins Museumsgässli führt. Er weist die Teilnehmer an, die Position einzunehmen, die auch Macke innehatte, als er vom Gässli aus das Bild Straße mit Kirche in Kandern malte. "Wir erleben hier Kunst im Kontext ihrer Entstehung", erklärt er. Die Senioren nicken, stehen ganz neben dem Kontext.
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Wie Dur in der Musik
"Kandern leuchtet", müsste der Stadtführer rufen, müsste von der Fröhlichkeit und Farbigkeit der Welt in Mackes Kunst erzählen, von seiner Begeisterung für das Licht oder davon, dass Macke in Kandern die Musik der Farben für sich entdeckte. "Was die Musik so rätselhaft schön macht, wirkt auch in der Malerei bezaubernd. In den Farben gibt es geradeso Kontrapunkt, Violin-, Bassschlüssel, moll, dur wie in der Musik", schrieb Macke im Juli 1907 aus Kandern. Das düstere, traurige Moll verbannt Macke aber aus seinen Bildern, doch auch das erzählt der Reiseleiter nicht. Stattdessen serviert er der Seniorengruppe den Rundweg als lieblosen "Macke to go" und steuert die nächste Station an.
Ein Vorurteil, das an Macke klebt wie Kaugummi unter der Schulbank: zu kitschig, zu einfältig, zu bunt. Macke sei ein penetranter Naturverklärer, ein schlichter Lieferant garantiert kitschiger Kunstpostkarten, der einem Farbe ins Auge schießt, aber ein anspruchsloser Langeweiler bleibt. Wer einem Optimisten wie Macke die Heiterkeit seiner Bilder vorwirft, tadelt auch eine Nachtigall wegen ihres Gesangs.
Ein Gleichnis, kein Abbild
Fröhlich, farbig, hell - so war Mackes Welt in Dur eben. Er zeigt sie uns noch einmal auf dem Aquarell Kandern IV an der zehnten Station des Rundwegs. Farbflächen formen ein sehr abstraktes Kandern, aber alles lässt sich wiederfinden - das flimmernde Blau und Grün der Berge und Gärten, das erdige Braun des Bodens, das Ziegelrot der Dächer. Kandern als Gleichnis - oder wie Macke es beschrieb: "Das Kunstwerk ist ein Gleichnis der Natur, kein Abbild."
Kandern IV entstand im Juni 1914 als eines der letzten Werke von August Macke. Nur wenige Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs fiel er am 26. September an der französischen Front. August Macke wurde nur 27 Jahre alt, blieb so für immer jung und staunend. "Wir Maler wissen gut, dass mit dem Ausscheiden seiner Harmonien die Farbe in der deutschen Kunst um mehrere Tonfolgen verblassen muss und einen stumpferen, trockeneren Klang bekommen wird", schrieb Franz Marc im Nachruf auf seinen Freund. Mit den Farben ist es so wie mit dem Staunen, das wir an diesem Tag nicht gefunden haben - Macke hat beides mitgenommen. (Nicole Quint, Album, DER STANDARD, 12.07.2014)