Der erste Schock ist überwunden, die Trauer ist geblieben - gepaart mit Frustration und Wut. Auch Tage nach der fulminanten Niederlage der brasilianischen Nationalelf bemüht sich die Nation um Erklärungsversuche. Dass der Erzrivale Argentinien jetzt im Finale gegen Deutschland steht, ist ein weiterer Schlag gegen die geschundene Volksseele. Rufe nach einem radikalen Neuanfang kommen aus allen Ecken.
Präsidentin Dilma Rousseff sprach vielen Fans aus der Seele, als sie in einem Interview mit CNN den Ausverkauf des brasilianischen Fußballs beklagte. Denn der sei nur noch "ein Export von Spielern an ausländische Teams." Nur vier Spieler des WM-Kaders stehen im eigenen Land unter Vertrag, die beiden Ersatztorhüter und die Totalversager Fred und Jó. Der kommunistische Sportminister Aldo Rebelo verlangt mehr Intervention des Staates in den Sport. Und Romário, Weltmeister von 1994, machte in einem wütenden offenen Brief die Korruption und Vetternwirtschaft innerhalb des brasilianischen Fußballverbandes CBF für den Untergang der Seleção verantwortlich. Für den sozialistischen Kongressabgeordneten ist die CBF, allen voran Präsident José Maria Marin, eine "Bande von Verbrechern, die eingesperrt gehören".
Die Aufgaben einer großen Nation
Am vergangenen Sonntag wurde in Brasilien offiziell der Präsidentschaftswahlkampf für die Abstimmung Anfang Oktober eröffnet. Nach den Schmähgesängen gegen die Präsidentin während des Eröffnungsspiels hatte Rousseff sich zurückgezogen, jetzt muss sie aber das Ruder rumreißen. Das Land motivieren, lautet die Devise ihrer Wahlkampfmanager. "Solch eine Niederlage wegzustecken macht eine große Nation aus", sagte Rousseff. Die Regierung bereitet eine Kampagne vor, die die WM als großen von ihr mitgestalteten Erfolg darstellt.
Rousseffs konservativer Herausforderer Aécio Neves hat für den Kursschwenk nur Spott übrig. "Die Regierung benutzt die WM für ihre Zwecke. Das hat aber nichts mit dem brasilianischen Volk zu tun." Doch vieles hat sich verändert im Fußballland Brasilien. Wohl noch keine WM war so politisch aufgeladen wie diese. Die Faszination für den Fußball hat für eine kurze Zeit die sozialen Probleme überdeckt, die jetzt wieder mit Macht an die Oberfläche treten. "Es gab einmal einen Fußball, bei dem die Leidenschaft Arm und Reich, Schwarze und Weiße verband. Aber das ist vorbei", analysiert die Soziologin Luci Ribeiro aus São Paulo.
Event der Eliten
Die Nationalmannschaft sei nicht mehr identitätsstiftend für das Volk. Sie bestehe aus sehr gut bezahlten Spielern, die aber alle Individualisten seien. "Das Volk sieht, wie beim CBF und beim Weltverband Fifa immer neue Korruptionsskandale alles dominieren." Die WM sei als Event für eine Elite kreiert worden, aber nicht fürs Volk. Diese Illusion habe die Weltmeisterschaft endgültig zerstört.
Bilder von in Tränen aufgelösten Fans und weinenden Kindern gingen nach dem Spiel gegen Deutschland durch die Medien. Jetzt werden allerorts Psychologen konsultiert, die helfen sollen, das Trauma zu überwinden. "Eltern müssen ihren Kindern erklären, dass Niederlagen zum Leben dazugehören", rät die bekannte Psychologin Vera Marcia Ramos. "Verloren hat nur derjenige, der nicht mehr aufsteht."
Und irgendwie auch, der sich nicht hinzustellt - lange war nicht klar gewesen, ob Präsidentin Rousseff am Sonntag im Maracaná die WM-Trophäe überreichen wird. Trotz der Angst vor Missfallenskundgebungen wird die 67-Jährige auf der Tribüne sitzen. Die Reaktion des Publikums wird als letzter Eindruck von der WM an die Weltöffentlichkeit gehen. (Susann Kreutzmann, DER STANDARD, 12./13.07.2014)