Früher war der Fußball nicht besser. Aber er war weniger kompliziert. Die Brasilianer waren Ballzauberer, Europas Mannschaften diszipliniert, die Asiaten laufstark und den Afrikanern konnte man taktische Faiblessen unterstellen. Das Spiel war auch dem Laien alle vier Jahre flugs zu erklären, Stereotype trafen mehr oder weniger zu. Damit ist es schon länger vorbei, die Weltmeisterschaft hat dies bloß rot unterstrichen. Der Fußball wird zusehends uniformer und dadurch in der Analyse komplexer. Wer heute zwischen den Mannschaften seriös unterscheiden will, muss eintauchen, sich mit 4-4-2 und 4-2-3-1 befassen. Das ist etwas anstrengender und weniger unterhaltsam, entspricht aber der Realität eines globalisierten Spiels.

Besonders hart trifft es Brasilien. Der fünffache Weltmeister, die historisch alles überragende Fußball-Nation wurde im eigenen Land entzaubert. Und zwar nachhaltig. Über Jahrzehnte hat das Land an einer 1950 im Maracanã erlittenen 1:2-Niederlage gegen Uruguay gekiefelt, eine 1:7-Schmach gegen Deutschland wird kaum leichter zu verdauen sein. Nein, das Image der Samba tanzenden Elf mit trickreichem Kurzpassspiel ist nicht mehr glaubwürdig aufrecht zu halten, gegen die frustrierenden Ergebnisse sind selbst in der Werbung transportierte Klischees machtlos. Ein Neymar ist zu wenig. Der letzte Filigrantechniker in den Reihen der Brasilianer weiß das am besten. "Es war ein gewöhnlicher Fußball, nicht der Fußball einer brasilianischen Auswahl, der besser ist und alle begeistert", sagt er.

Ursachensuche

Dieser gewöhnliche Fußball wird mittlerweile quer über alle Kontinente beherrscht. Und er bedeutet keineswegs niedrige Qualität. Das schnelle Umschalten zwischen Defensive und Offensive gehört ebenso zum Standardprogramm wie die beim Stürmer beginnende Defensive und eine für dieses laufintensive Spiel erforderliche Fitness. So konnte Brasilien bis auf das bereits ausgeschiedene Kamerun auch keinen Gegner im Turnier dominieren, weit gefehlt. Das ist ernüchternd, also wird nach Ursachen gesucht. Plötzlich spricht die brasilianische Präsidentin Dilma Roussef vom Ausverkauf des brasilianischen Fußballs, der sei nur noch "ein Export von Spielern an ausländische Teams." Ironie am Rande: die schlechtesten Spieler einer schwachen Seleção waren jene, die in der brasilianischen Liga engagiert sind.

Als Brasilien 2002 zum letzten Mal die Trophäe stemmen durfte, spielte die Hälfte des erfolgreichen Kaders tatsächlich in Brasilien. Die Leistungsträger kickten aber bereits allesamt in Europa. Nur dort werden unter dem größtmöglichen Konkurrenzdruck Weltmeister geschmiedet. In den vier großen Ligen und vor allem in der Champions League. Die brasilianische Liga muss hingegen aufpassen, nicht von der US-amerikanischen Major League Soccer überflügelt zu werden, wenn dies nicht ohnehin schon passiert ist. Die klaffende Lücke zum europäischen Klubfußball ist nicht mehr zu schließen. Die Zeiten als Spieler aus der brasilianischen Liga bei einer Endrunde qualitativ überraschen konnten, sind vorbei. Und sie kommen auch so schnell nicht mehr wieder. Zu umfassend ist das Scouting der europäischen Großklubs. Was kicken kann, wird abgefischt.

Reformen benötigt

Dass die Dichte an überragenden Spielern für einen WM-Titel nicht ausreicht, hat aber ohnehin andere Ursachen. Zum einen ist die Nachwuchsarbeit nicht mehr am letzten Stand, zum anderen wird die Trainerausbildung nicht mit dem benötigten Ernst betrieben. Der einstige Stürmerstar Romario warnte in der Vergangenheit wiederholt, er blieb ein Rufer in der Wüste. Brasilien hat sich auf die gottgegebene Rangordnung verlassen und dabei die Strukturen des modernen Fußballs ignoriert. Das WM-Fiasko darf als Weckruf verstanden werden. Was es nun braucht, sind umfassende Reformen, und dafür braucht es wiederum Geld, das nicht nur in die Taschen korrupter Funktionäre fließt. Gerade mit dem Budget könnte es in nächster Zeit aber knapp werden – die hohen Kosten der WM belasten den aus dem Ruder gelaufenen Staatshaushalt. Und das dicke Ende kommt erst: die olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro. Gute Nacht, Hexa Campeão. (Philip Bauer, derStandard.at, 13.7.2014)