Bild nicht mehr verfügbar.

Kolumbiens Juan Zúñiga springt Neymar an - vielleicht das brutalste Foul der WM, sicher aber das Foul mit den gravierendsten Folgen.

Foto: AP/Bensch

Katzmair: "Der Spielmacher als präziser Impulsgeber ist Geschichte."

Foto: FSResearch

Neundlinger: "Die Basis bildet eine sichtbare Aufrüstung der Körper."

Foto: Corn

Standard: Haben sich die Erwartungen der Analytiker bezüglich der Weltmeisterschaft erfüllt?

Katzmair: Mit unserer Vermutung, dass wir viele ausgelaugte Teams erleben werden, sind wir richtig gelegen. Italien, Portugal und vor allem Spanien hatten einfach keine Substanz mehr. Was uns in dieser Form überraschte: Wir haben die vielleicht brutalste WM der Geschichte erlebt. Je länger das Turnier dauerte, desto mehr fühlte sich das Zuschauen nach Arbeit und Schmerz an. Ständig prallten die Körper wie Projektile aufeinander. Die Schiedsrichter hätten viel früher und energischer gegensteuern müssen.

Neundlinger: Der Hegemonie Spaniens ist gründlich der Garaus gemacht worden. Und das betrifft auch den Spielstil. Dieser fußt ja auf dem holländischen Prinzip des "totalen Fußballs" - des Versuchs, mit schnellem Kombinationsspiel in gegnerische Räume vorzudringen. Die Spanier adaptierten diesen Stil nicht zuletzt, um der körperlichen Überlegenheit anderer Teams spielerisch etwas entgegenzusetzen, nach dem Motto "Bevor du in den Zweikampf kommst, ist der Ball schon weg". Ein solches Spiel kollabiert jedoch, wenn keine Räume zur Entfaltung mehr vorhanden sind.

Standard: Wäre für fitte Spanier oder vergleichbar quirlige Mannschaften mehr möglich gewesen?

Katzmair: Was wir beobachten konnten, war eine generelle "Versiegelung" des Raums. Über 90 oder 120 Minuten wurde alles so gründlich zugestellt, dass ein kreatives Kombinieren nicht mehr möglich war. Diese Dominanz des Verhinderns über das Gestalten ließ viele Spiele in einer fundamentalen Ratlosigkeit versanden.

Neundlinger: Die Basis für das durchgängig aggressive Pressing bildet eine sichtbare Aufrüstung der Körper. Bis vor wenigen Jahren schienen austrainierte Oberkörper unter Fußballern eher Ausdruck persönlicher Eitelkeit - nun aber wird deutlich, zu welchem Zweck sie ihre Muskeln stählen. Spieler wie der Brasilianer Hulk haben ihre fußballerische Begrenztheit ebenso eindrucksvoll zur Schau gestellt wie ihre nahezu unbegrenzte körperliche Strapazierfähigkeit.

Katzmair: Es wirkt so, als würden sich diese großteils tätowierten Projektile an den Fifa-Games orientieren. Werbespots und Medien tun das Ihre, um die ästhetisch-athletische Aufmunitionierung ins Licht zu rücken. Diese Renaissance des Heldenkörpers füllt eine Lücke, die der "postheroische" Fußball hinterlassen hat. Denn der Spielmacher als präziser Impulsgeber ist Geschichte.

Neundlinger: Es gab einfach keinen Raum mehr für individuelle Akzente - weder für mäandernde Dribblings à la Lionel Messi noch für raumöffnende Präzisionspässe à la Andrea Pirlo.

Standard: Warum hinterlässt diese WM trotz Torrekords und einiger wirklich spektakulärer Spiele einen insgesamt eher zähen Eindruck?

Katzmair: Die Kräfte, die den Raum besetzen und den Status quo beherrschen, sind nicht nur auf dem Fußballplatz stärker als jene Kräfte, die sich auf die Suche nach dem Neuen und den offenen Räumen begeben. Man muss sich nur das Umfeld der Fifa mit seinem Sumpf an Korruption und Altherrenallianz vergegenwärtigen, um zu begreifen, dass ein lebendiges, freudvolles Turnier von Anfang an kaum möglich war. Die Spiele waren oft ein Spiegel des gesellschaftlichen Stillstands. Der lange Zeit in Wien lehrende Philosoph Hans-Dieter Bahr hat einmal darauf hingewiesen, dass im Wort "Glück" etymologisch die "Lücke" steckt. Wenn diese Lücke als spielerisch-kreativer Möglichkeitsraum verschwindet, erstickt auch jedes Glücksgefühl.

Neundlinger: Umso bemerkenswerter war die Performance des algerischen Teams in der grandiosen ersten Hälfte gegen Deutschland. Mit einem nahezu vollkommen gewaltlosen Partisanenfußball versuchte das Team, jede Situation spielerisch zu lösen. Da wurde kein einziger Ball blind nach vorn gedroschen, sondern über drei, vier Stationen klug und munter nach vorn gespielt. Mit ihrem magischen Kollektivfußball provozierten sie schlussendlich die Deutschen zu einem ebenso sehenswerten energischen Sturmlauf.

Katzmair: Nicht vergessen werden darf auch die Leistung von Torhüter Neuer, der sein Team mit Paraden weit vor dem Gehäuse rettete. Zudem zeigte er durch seine Fähigkeit zur Spieleröffnung mit präzisen weiten Auswürfen, dass gerade in der Funktion des mitspielenden Tormanns wieder so etwas wie eine spielöffnende Instanz entstehen könnte. (Sigi Lützow, DER STANDARD, 14.07.2014)