Sinn des Lebens? – "Poooh. Kann ich gar nicht beantworten": Gert Voss im STANDARD-Gespräch.

Foto: standard/regine hendrich

Wien – Gert Voss hat die Nöte seiner Figuren offengelegt, ohne sie ganz preiszugeben: die Nöte eines abgetakelten Altkomikers in Die Sunshine Boys, die Verzweiflung der Erkenntnis im König Lear, die heraufdämmernde Panik des Othello oder den Zorn der großindustriellen Geistesgröße Herrenstein in Bernhards Elisabeth II. William Shakespeare und Thomas Bernhard waren auch die beiden Dramenkontinente, auf denen sich Voss am liebsten bewegte.

Shakespeares Figuren sind, so sagte Voss einmal, die größten Rätselwerke. Das Unerklärliche hat der ingeniöse Theaterschauspieler auch in seiner Arbeit hochgehalten – er war bei aller mimetischer Entäußerung ein großer, eleganter Geheimhalter und Beschützer seiner Charaktere.

Diese Kunst hat ihm viele Auszeichnungen eingebracht, Kainz- Medaille, Fritz-Kortner-Preis, Getrud-Eysoldt-Ring, Nestroy, Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien, Goldenes Verdienstzeichen der Stadt Salzburg, Bundesverdienstkreuz 1. Klasse – und 1995 gar den von der Times vergebenen Ehrentitel "Europas größter Theaterdarsteller". Mit der Schwerkraft dieser Huldigungen lernte Voss früh zu leben, zehnmal wurde er als "Schauspieler des Jahres" nominiert und sechsmal (zwischen 1981 und 2001) auch erwählt.

Dabei hat der Ausnahmekünstler um sein Publikum nie gebuhlt, mit scheinbar leichter, stets würdevoller Geste aber für seine Figuren geworben – ein gradueller Unterschied von immenser Wichtigkeit. Voss' Rollen, das waren jene kraft der Vossen'schen Persönlichkeit über einen leuchtenden Horizont heraufbeförderten neuen Persönlichkeiten (von Mephisto über Big Daddy bis zur Zofe Claire). Wer Zeuge dieser Anverwandlungen wurde, dem war das Glück beschieden, an Denkprozessen beteiligt zu sein, ihrer ansichtig zu werden in einer ganz eigenen Deklamationskunst, die nichts anderes meint als das Sprechen als Kunstform zu begreifen und dergestalt hochzuhalten.

Seltene Spielkunst

Ein kurzes Studium bei Walter Jens und Wolfgang Schadewaldt in Tübingen hat Gert Voss' Wissen um Rhetorik geprägt: Voss brachte jede Silbe ans Licht, er bereitete den Sätzen auf seinen großen, stets deutlich bewegten Lippen eine Bühne. Aus diesem nicht zuletzt körperlichen Bemühen um die Sprache entstand seine Spielkunst.

Zu bewundern war sie zuletzt 2013, als Orgon in Molières Tartuffe - Luc Bondys Abschiedsinszenierung bei den Wiener Festwochen; in Matthias Hartmanns Onkel Wanja-Inszenierung am Akademietheater; oder, gemeinsam mit Ignaz Kirchner, in einer Hommage an George Tabori, anlässlich dessen 100. Geburtstags. Von Vossens Kunst zehrten seine Regisseure: Alfred Kirchner in den Anfangsjahren, dann sein "Schicksalsregisseur" Claus Peymann, aber auch Peter Zadek, George Tabori und Luc Bondy, mit denen er in Wien vielfach zusammenarbeitete: Trigorin in Die Möwe, Hamm in Becketts Endspiel, Shylock aus Der Kaufmann von Venedig oder Othello. Jüngere Regisseure trauten sich bis auf Thomas Ostermeier (Maß für Maß bei den Salzburger Festspielen 2011) leider nicht an ihn heran.

Strahlkraft und Könnerschaft

Von 1986 an, nachdem er mit Claus Peymann nach Wien gekommen war, galt Gert Voss (eigentlich Peter Gert Voss) als der unbestrittene König des Burgtheaters, zwei kurze Abstecher nach Berlin inklusive. Diesen Thron hat ihm niemand geschenkt; das Abonnementpublikum begegnete ihm und dem restlichen neuen Ensemble zunächst bekanntlich mit Ablehnung. Mit Voss als Richard III. (1986) aber hatten dann auch die Wienerinnen und Wiener ein Einsehen und verfielen der Strahlkraft und Könnerschaft des Mimen. Voss spielte später (1995 bis 1998) auch den Jedermann am Salzburger Domplatz.

Das anfangs konfliktreiche Zusammenspiel mit dem Publikum hat Voss' Ausnahmekarriere weiter beflügelt. Begonnen hat er als einer der produktivsten Protagonisten Peymanns in Stuttgart und Bochum. Dort feierte er 1982 seinen Durchbruch in Kleists Die Hermannsschlacht. Eine der größten Auszeichnungen war aber wohl 1987 die Adelung durch Thomas Bernhards Wittgenstein-Stück Ritter Dene Voss. Es enthält übrigens auch die berühmte "Brandteigkrapfen"-Szene, die auf Youtube konserviert ist.

HoanzlFilm

Wie so oft war der Schauspielberuf ganz und gar nicht das, was die Kaufmannsfamilie, in die Gert Voss 1941 in Schanghai hineingeboren wurde, für ihren Spross ersann. Sein Vater arbeitete bis 1947 in China als Außenhandelskaufmann, schon der Großvater, ein Chemiker, lehrte an der Universität in Peking. Gert Voss allerdings war ganz der Illusionskunst erlegen, nachdem er in Schanghai viel Zeit in alten Kinopalästen verbrachte, wo er sich mit seiner Mutter vor der Internierung verstecken musste. Auch die lange Überfahrt zurück nach Deutschland verbrachte er nächtens an Deck des Schiffs vor der Filmleinwand.

Nicht zuletzt war es die Fremde, die ihm noch als kleines Kind das Bewusstsein für die immer nur begrenzt einsetzbare Sprache schärfte: Einmal in einer Menschenmenge in China verlorengegangen, wurde Gert Voss diese Grenze nachhaltig aufgezeigt. Nachzulesen ist all das in den autobiografischen Erinnerungen Ich bin kein Papagei (Styria 2011), die seine Frau, die Dramaturgin Ursula Voss, aufgezeichnet hat.

Begeisterung für den Film

Seit April stand Gert Voss als alternder Wiener Patriarch für die Fernsehserie Altes Geld (Regie: David Schalko) vor der Kamera, Ende August sollten die Dreharbeiten beendet sein. Wie – und ob überhaupt – die Produktion ohne den wichtigsten Darsteller weitergeht, vermag niemand aus dem geschockten Team beantworten.

Die Begeisterung für den Film und das fundamentale Interesse für die Sprache formten einen Charakterdarsteller, der keine der namhaften Kaderschmieden durchlief, sondern neben seinem Privatunterricht bei Ellen Mahlke vor allem aus seiner eigenen Klugheit schöpfte. Interviews mit ihm stecken voller Weisheit, sprachlichem Glanz und Witz: "Schauspielerei", sagte er einmal verschmitzt in einem Interview, "ist ja nicht nur Aufklärung, sondern auch Hinters-Licht-Führen". (Margarete Affenzeller, DER STANDARD, 15.7.2014)