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Die Speicher vollmachen: Die Sonne (in Maßen genossen) fördert die Bildung von Vitamin D. Die körpereigenen Vorräte reichen dann bis zum Ende des Winters.

Foto:Jae C. Hong, Pool/AP/dapd

Graz - Beim Thema Vitamin D sind die Forscher gespaltener Meinung: Die einen raten jedem zur täglichen Einnahme, die anderen halten das für maßlos übertrieben. Erstere argumentieren, Vitamin D vermeide Knochenbrüche bei älteren Menschen, außerdem schütze die Wunderpille vor Herz-Kreislauf-Krankheiten, Demenz, Krebs, Autoimmun- oder Stoffwechselkrankheiten und sogar vor einem vorzeitigen Tod. Doch glaubt man Evropi Theodoratou, kann man sich die Pillen sparen: Trotz Hunderter großer Studien gebe es keinen klaren Beweis, dass Vitamin D vor diesen Krankheiten bewahre, resümiert die Wissenschafterin vom Zentrum für Gesundheitswissenschaften an der Uni Edinburgh ("British Medical Journal" vom 1. April 2014).

Theodoratou hatte in 181 Studien analysiert, welchen Effekt Vitamin D auf verschiedene Krankheiten, Beschwerden, Laborwerte oder das Risiko zu sterben hat. "Aus den vorhandenen Daten können wir keine eindeutige Aussage machen," so ihr Fazit. Die in einzelnen Studien beobachteten Zusammenhänge seien entweder nicht genau hinterfragt worden, oder sie hätten in Folgestudien nicht bestätigt werden können. So kann es zum Beispiel sein, dass Menschen, die Vitamin D-Tabletten in Studien einnahmen, per se gesünder lebten und deshalb seltener krank wurden. Nach Theodoratous Recherchen gibt es nur wenige Situationen, in denen Vitamin D etwas nützt. So scheint es Karies bei Kindern zu verhindern und das Geburtsgewicht Neugeborener zu erhöhen. "Gängige Empfehlungen, täglich Vitamin D einzunehmen, beruhen eher auf der Meinung einzelner Experten als auf den Ergebnissen guter Studien", so Theodoratou.

Schlechte Studien

Vitamin D ist sicher keine Wunderpille, sagt auch Karin Amrein, Internistin an der Med-Uni Graz. "Das Problem bei den Studien ist, dass sie meist zu klein und falsch geplant sind." So ist zum Beispiel häufig der Vitamin-D-Spiegel gar nicht gemessen worden. "Das ist so, als würde man eine Studie zu Insulintherapie bei Diabetes machen und gar nicht bestimmen, ob die Betroffenen überhaupt zu wenig Insulin haben." Außerdem hat Theodoratou nicht aufgeschlüsselt, wie viel Vitamin D die Teilnehmer eingenommen hatten. "Aus guten Studien wissen wir, dass nur ausreichend hohe Dosen vor Knochenbrüchen schützen", sagt Marius Kränzlin, Endokrinologe an der Universität Basel. Eine weitere Fehlerquelle ist, dass in einigen Studien Vitamin D allein untersucht wurde. "Seit längerem ist aber bekannt, dass nur die Kombination mit Kalzium etwas bringt", sagt Kränzlin. "In Studien, in denen die Teilnehmer beides in der notwendigen Dosis nahmen, konnte die Knochenbruchrate um 20 Prozent gesenkt werden."

Zu einem ähnlichen Schluss kommt das Institute of Medicine (IOM) in den USA, das unabhängige Empfehlungen zu Medizin und Gesundheit herausgibt. Vor drei Jahren legten IOM-Experten fest, dass eine ausreichende Kalzium- und Vitamin-D-Versorgung wichtig für Knochen und Muskeln ist. Der Vitamin-D-Spiegel im Blut sollte mindestens 20 Nanogramm pro Liter betragen, was mit der Einnahme von 600 Einheiten Vitamin D pro Tag erreicht würde.

Den Nutzen bei anderen Krankheiten sieht auch Kränzlin noch nicht bewiesen. Klar scheint zumindest zu sein: Weniger als 20 Nanogramm Vitamin D pro Liter Blut ist zu wenig. Die Knochen brechen leichter, und die Muskeln schmerzen. Bei Kindern heißt das Rachitis, bei Erwachsenen Osteomalazie. "Die Symptome treten aber erst bei schwerem Mangel auf, und manche Erwachsene haben selbst dann keine Beschwerden", sagt Internistin Amrein. Einen leichten Mangel merke man nicht, auch wenn immer wieder zu lesen ist, er führe zu Müdigkeit oder Abgeschlagenheit. "Patienten, die erfahren, dass sie zu wenig Vitamin D haben, werden augenblicklich müde", lacht Amrein. Das hat dann aber vielleicht nichts mit dem Vitamin D zu tun, sondern andere Ursachen - zu viel WM geschaut zum Beispiel.

Licht und Luft

Gemäß einer Untersuchung von Forschern aus Wien und Graz haben 26 Prozent der Erwachsenen in Österreich einen Vitamin-D-Spiegel von weniger als zwölf Nanogramm pro Liter. "Die Werte wurden aber am Ende des Winters gemessen", sagt Amrein. "Im Frühjahr kann man mit den ersten Sonnenstrahlen rasch seine Speicher füllen." Nur einen kleinen Teil Vitamin D nimmt der Mensch über die Nahrung auf. Das meiste kann er selbst herstellen - wenn er sich der Sonne aussetzt.

Bei einer halben Stunde im Freien pro Tag produziere die Haut genügend Vitamin D - zumindest im Sommer, sagt Kränzlin. "Und wenn der Speicher voll ist, reicht das oft über die Wintermonate hinaus." Ein breites Streuen von Vitamin-D-Tabletten sei sicherlich nicht gerechtfertigt. Andererseits sieht er immer öfter Patienten mit Vitamin-D-Mangel. Gefährdet sind vor allem Menschen mit Osteoporose, chronischen Nieren- oder Darmkrankheiten, Schwangere und Stillende sowie Personen über 70 Jahre, weil im Alter die körpereigene Vitamin-D-Produktion nachlässt.

Auch Kinder mit dunkler Hautfarbe haben oft zu wenig Vitamin D, weil ihre Haut nicht so viel davon herstellen kann, ebenso verschleierte muslimische Mädchen, bei denen die Sonne erst gar nicht an die Haut herankommt. Diesen Menschen empfehlen die beiden Ärzte großzügig Vitamin D. "Wichtig ist aber, dass man vorher den Spiegel misst", sagt Amrein. "Hat man keinen Mangel, braucht man auch nichts zu nehmen." Kindern und Jugendlichen rät sie, bis Mitte 20 kontinuierlich Vitamin D zu nehmen. "Das hilft, Knochen aufzubauen. Danach ist es zu spät." (Felicitas Witte, DER STANDARD, 15.7.2014)