Schon im Zweiten Weltkrieg wurden die Wurzeln des Russischen Löwenzahns als Kautschukspender entdeckt.

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Graz - Vom Autoreifen bis zum Kondom - Kautschuk ist immer dabei. Dabei kennt man die "Träne des Baumes", wie die Milch des Kautschukbaums von den amerikanischen Ureinwohnern genannt wird, in Europa erst seit dem 18. Jahrhundert. In Mittelamerika hingegen wurden über dreieinhalbtausend Jahre alte Gefäße, Schläuche und Kleidungsstücke aus Kautschuk gefunden.

Zwar werden heute 60 Prozent des weltweiten Gummibedarfs durch synthetisch auf Erdölbasis hergestellten Kautschuk gedeckt, auf Naturkautschuk kann man dennoch nicht verzichten. Er ist wesentlich strapazierfähiger und elastischer und wird beispielsweise für extrem belastbare Reifen verwendet. Aber auch bei herkömmlichen Autoreifen wird synthetischer mit natürlichem Kautschuk gemischt.

Gewonnen wird der Naturkautschuk aus dem Gummibaum, der vor allem in südostasiatischen, chinesischen und afrikanischen Plantagen kultiviert wird. Allerdings ist die globale Nachfrage bedeutend größer als das Angebot, da die Kautschukbäume massiv von Pilzbefall bedroht sind. Die Folge sind steigende Preise - und die Such e nach Alternativen. Den Ausweg könnte eine kleine, unscheinbare Pflanze liefern: der Russische Löwenzahn, dessen Wurzeln nicht nur bis zu zehn Prozent Kautschuk enthalten, sondern auch Inulin liefern, das als präbiotischer Nahrungszusatzstoff und zur Herstellung von Fructose in der Lebensmittelindustrie eine wichtige Rolle spielt.

Sowjetisches Know-how

Wissenschaftliche Untersuchungen des Russischen Löwenzahns wurden bereits im Zweiten Weltkrieg durchgeführt, da der Gummiverbrauch in diesen Jahren extrem anstieg. Insbesondere in der Sowjetunion war man in der Erforschung des Löwenzahns als Kautschuklieferant schon sehr fortgeschritten.

Dieses kriegswichtige Know-how hat die deutsche Wehrmacht während ihres Russlandfeldzugs erbeutet und darauf die eigenen Pläne von riesigen Löwenzahnplantagen im eroberten Osteuropa aufgebaut - eine Idee, die durch den Kriegsverlauf letztlich nicht realisiert werden konnte. Während man in Europa auf Russischen Löwenzahn setzte, wurde zur gleichen Zeit in den USA der in den Wüsten wachsende Guayule-Strauch als potenzieller Kautschukspender unter die Lupe genommen.

Nach dem Krieg war es um diese natürlichen Kautschukalternativen wieder sehr still geworden, bis 2008 ein großes europäisches Forschungsprojekt gestartet wurde, in dem man beide Pflanzenarten untersuchte und miteinander verglich. Dabei erwies sich der Russische Löwenzahn als klarer Favorit. Im kürzlich gestarteten Folgeprojekt Drive4EU geht es nun um die Bedingungen für einen großflächigen Anbau des Russischen Löwenzahns in Europa.

"Aus dem Vorgängerprojekt weiß man, dass die Qualität von Naturkautschuk aus dem Russischen Löwenzahn jener des Gummibaums ebenbürtig ist", sagt Maria Hingsamer vom Institut für Wasser, Energie und Nachhaltigkeit der steirischen Forschungsgesellschaft Joanneum Research. "Nun wollen wir herausfinden, wie man Löwenzahnkautschuk wirtschaftlich effizient und auf eine umwelt- und sozialverträgliche Weise produzieren kann".

Als einer von zwölf Projektpartnern aus den Bereichen Industrie und angewandte Forschung ist Joanneum Research für die Durchleuchtung der ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Aspekte im gesamten Lebenszyklus der Produkte sowie für die Verbreitung der Projektergebnisse zuständig.

Lebenszyklusanalyse

"Durch die Bewertung mittels Lebenszyklusanalyse und Lebenszykluskostenanalyse können wir die Auswirkungen der Naturkautschuk- und Inulinproduktion quasi von der Wiege bis zur Bahre analysieren und mit konventionellen Produkten vergleichen", erläutert Hingsamer. "Damit soll sichergestellt werden, dass sich der großflächige Anbau von Russischem Löwenzahn auch wirklich lohnt." Indem die Forscher den Energiebedarf, die Emissionen und die Kosten über den gesamten Lebenszyklus untersuchen, können sie herausfinden, wo man ansetzen muss, um die Prozesse so effizient wie möglich zu gestalten.

Die Gefahr, dass der ausgesprochen robuste Russische Löwenzahn durch einen großflächigen Anbau in Europa Teile unserer heimischen Pflanzenwelt verdrängen könnte, sei nicht gegeben: Zum einen sei die Pflanze so anspruchslos, dass sie auch auf sehr schlechten Böden, wo sonst keine Landwirtschaft betrieben werden kann, gut gedeiht. Zum anderen habe sie nach den Experimenten in den 1940er-Jahren weder in ihrer russischen Heimat noch in Polen von den dortigen Versuchsanbaugebieten aus ihre alteingesessenen Nachbarn überwuchert.

Aggressiver Expansionsdrang kann dem Russischen Löwenzahn also nicht unterstellt werden - wohl aber jenen, die sich damals so sehr für ihn interessierten: Wurde doch die deutsche Löwenzahnforschungsstation 1942 im KZ Auschwitz eingerichtet, wo rund 200 Zwangsarbeiter auf der Miniplantage schuften mussten. (Doris Griesser, DER STANDARD, 16.7.2014)