Roland Benedikter, Verena Nowotny
China
Situation und Perspektiven des neuen weltpolitischen Akteurs
Springer Fachmedien 2014
482 Seiten, ca. 62 Euro

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Ein chinesisches Sprichwort weist darauf hin, dass "man im selben Bett liegen, aber unterschiedliche Träume haben kann.“ Diese Beobachtung lässt sich einerseits auf die inner-chinesischen Interpretationen des von Präsident Xi Jinping ausgerufenen "neuen chinesischen Traums" anwenden. Xis "Traum" besteht in der Rückkehr zu "alten Werten" und zum "angestammten Platz" des Reichs der Mitte in der Welt, wird aber von vielen chinesischen Zivilgesellschaftern und Intellektuellen wegen der damit einhergehenden expansiven und zum Teil auch autoritären innen- und außenpolitischen Signale skeptisch gesehen.

Das Sprichwort vom gemeinsamen Bett mit unterschiedlichen Träumen gilt aber auch für das Verhältnis zwischen Europa und China, bei dem beide Seiten im Umgang miteinander von unterschiedlichen Motiven und Zielsetzungen getrieben werden.

Warum China wichtig für Europa ist

Wenn es um die strategische Ausrichtung geht, könnte man meinen, dass es eine Menge Gründe gibt, warum China ziemlich weit oben auf der Prioritätenliste der Europäischen Union stehen sollte. Mit einem Waren- und Dienstleistungsvolumen von knapp 480 Milliarden Euro ist die EU schon jetzt Chinas größter Handelspartner. Bis 2020 soll das Volumen auf 750 Milliarden Euro gesteigert werden. So verkündeten es die Politiker beider Seiten zumindest beim letzten EU-China-Gipfel vom 20. bis 21. November 2013, dem 16. bilateralen Gipfeltreffen in Peking.

Strategische Kooperationsagenda 2020

Dabei erfolgte seitens EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und dem Präsidenten des Europäischen Rates Herman Van Rompuy auf der einen Seite sowie dem chinesischen Premierminister Li Keqiang auf der anderen die Grundlegung einer "Strategischen Kooperationsagenda 2020", die man durchaus als historisch ansehen kann. Sie vereint eine ganze Reihe von neuartigen, zum Teil zumindest dem Potential nach bahnbrechenden Initiativen der Zusammenarbeit, darunter den "China-EU-Dialog über Innovationszusammenarbeit", das "China-EU-Urbanisierungspartnerschaftsforum", die "China-EU-Urbanisierungsausstellung" sowie die sechste Runde des "China-EU-Energiedialogs". Desweiteren fanden in Peking ein Wirtschaftsgipfel sowie ein "Regionalpolitik-Dialog" statt. Im Rahmen des Gipfels wurden außerdem eine Reihe von Abkommen unterzeichnet, darunter das "Verwaltungsabkommen für die Zusammenarbeit in Angelegenheiten des intellektuellen Eigentums", die "China-EU-Gemeinschaftserklärung zur Energiesicherheit" sowie die "Willenserklärung zur gemeinsamen Forschung und Innovationskooperation im Nahrungsmittel-, Agrikultur- und Biotechnologiebereich".

China bevorzugt ein starkes Europa

Sollten diese Abkommen und Willenserklärungen wie geplant umgesetzt werden, wird das chinesisch-europäische Verhältnis nach einer Inkubationszeit von einigen Jahren ein neues Niveau erreichen. Auch politisch haben sowohl China als auch die EU ein nachvollziehbares Interesse daran, dass das machtpolitische Weltgefüge nicht auf eine G2-Konstellation hinausläuft. China bevorzugt ein starkes Europa, um finanzpolitisch, wirtschaftlich und sicherheitspolitisch nicht ausschließlich auf die USA fokussiert sein zu müssen.

Europa wiederum durchlebt seit 2008 eine nie dagewesene Finanz-, Wirtschafts- und politische Identitätskrise, die durch die Europawahlen vom 22. bis 25. Mai eher bestätigt als entkräftet wurde. Es fürchtet, in der Auseinandersetzung um die globale Führungsposition als kümmerlicher Dritter keine entscheidende Rolle mehr zu spielen. Umso wichtiger ist für Europa eine konstruktive Anbindung an den chinesischen Aufstieg.

Investitionsabkommen mit China

In diesem Kontext werden die gleichzeitigen Sympathiekundgebungen der Europäer sowohl Richtung Osten als auch Westen nachvollziehbar. So wenn etwa der EU-Parlamentarier Elmar Brok massiv für eine stärkere Zusammenarbeit zwischen der EU und den USA plädiert – etwa im Bereich des geplanten Transatlantischen Handels- und Investitionsschutzabkommens (TTIP) –, um dann als mächtigster Handelsblock der Welt die internationalen Standards in Bezug auf Arbeitssicherheit, Mindestlöhne, Patentrechte, Wirtschaftsliberalisierung und Zugang zu Regierungsaufträgen setzen zu können, denen sich dann auch China unterwerfen müsste. Gleichzeitig verhandelt die EU aber seit Jahresbeginn auch ein Investitionsabkommen mit China – interessanterweise mit deutlich weniger medialen Nebengeräuschen, als dies beim TTIP der Fall ist.

Angesichts der herausragenden Bedeutung Chinas für Europa mutet es geradezu grotesk an, dass unter den mehr als 100 Neuerscheinungen zu China, die der Online-Buchhändler Amazon allein in den vergangenen sechs Monaten auflistet, vorwiegend US-amerikanische Autoren zu finden sind und nur ganz wenige europäische Stimmen in diesem Diskurs mitmischen.

Von Europa lernen

Dabei hätte die EU Erfahrungswerte zu Themen anzubieten, die auch in China derzeit Hochkonjunktur genießen. Von den Bemühungen um Nachhaltigkeit und Umweltschutz über den Umgang mit regionalen Konflikten und ethnischen und religiösen Minderheiten bis hin zur Entwicklung eines rechtsstaatlichen Systems in Form des acquis communautaire für mittlerweile 28 Mitgliedsländer haben die Europäer erfolgreiche best practices vorzuweisen, an denen die Chinesen durchaus Interesse zeigen, um sie in ihrer eigenen Interpretation für sich fruchtbar zu machen.

Dies zeigte sich beispielsweise am 26. und 27. Juni dieses Jahres, als in Wien unter der Patronanz des Europäischen Parlaments das "2. China-Europa-Rechtsforum" stattfand. Dabei wurden vor allem rechtliche Aspekte im Wirtschaftsbereich erörtert, allerdings noch nicht im zivilgesellschaftlichen Bereich. Die hochrangige chinesische Delegation wurde von Zhang Mingqi geleitet, einem Mitglied des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses und Vertreter der Gesetzgebung (und -interpretation) des offiziellen China. Die chinesische Führung hat längst erkannt, dass die zunehmenden gesellschaftlichen Spannungen, die sich in jährlich zigtausenden Protesten und zunehmenden ethnischen Konflikten entladen, bis zu einem gewissen Grad durch Konfliktlösungsmechanismen im rechtsstaatlichen Bereich entschärft werden können. Dementsprechend waren diesbezügliche Reformen auch einer der Schwerpunkte auf der Agenda beim Dritten Plenum des 18. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei im November 2013.

Die Bemühungen Chinas um eine verlässlichere rechtsstaatliche Basis - und vor allem: Praxis - sind zwar zu begrüßen, müssen jedoch im politischen Kontext des Riesenreichs gesehen werden. Denn Präsident Xi Jinping hat durchaus deutlich gemacht, dass bei rechtsstaatlichen Reformen die "chinesischen Charakteristika" berücksichtigt werden müssen. Im Klartext heißt dies, dass das Primat der Kommunistischen Partei über das Recht und den Staat gewahrt bleiben muss.  Daraus ergibt sich ein grundlegender Widerspruch zum westlichen Verständnis, das Rechtsstaatlichkeit nur bei ausnahmsloser Anwendung auf alle gesellschaftlichen Akteure als gegeben ansieht.

Was bedeutet das für die Zukunft des europäisch-chinesischen Verhältnisses?

Zumindest dies: Die Handlungsstränge und Herausforderungen in China sind vielschichtig; die auf dem Tisch liegenden Probleme nicht minder. Ähnliches gilt aber auch für Europa. Das beißende Urteil des österreichischen Publizisten Karl Kraus: "Wir treiben Weltverkehr auf schmalspurigen Gehirnbahnen" scheint nach wie vor eine gewisse Berechtigung zu haben. Die Europäische Union, ein komplexes Gebilde sui generis, wird trotz aller Bemühungen Chinas Komplexität noch nicht gerecht. Und China interessiert sich noch zu einseitig für dasjenige an Europa, was es unmittelbar für sich gebrauchen kann, statt aus der europäischen Erfahrung der "Geeintheit in der Vielheit" grundsätzlich und langfristig für die Befriedung eigener Konflikte und die notwendige gesellschaftliche Ausdifferenzierung zu lernen.

Das können beide Seiten besser. China und Europa werden in den kommenden Jahren immer stärker aufeinander angewiesen sein. Daher sollten sie auch ihr gegenseitiges Interesse vertiefen und vom Pragmatisch-Tagespolitischen ins Grundsätzliche erweitern. Die Zusammenarbeit muss auch die zivilgesellschaftlichen und rechtsstaatlichen Ebenen erreichen. Erst dann werden die - vielversprechenden - Abkommen und Willenserklärungen vollends ihre Fürchte entfalten.

Wo liegt die Perspektive?

Zwar stößt der mittlerweile bereits siebte Staatsbesuch in neun Jahren der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in China vom 5. bis 8. Juli, mit dem sie die chinesisch-deutsche "Sonderbeziehung" ausbauen will, vielen europäischen Staatschefs sauer auf, da sie darin eine eigensinnige Konkurrenz zu einem gemeinsamen europäischen Vorgehen sehen. Die Sonderbeziehung Deutschlands zu China kann aber auch zum Motor der chinesisch-europäischen Beziehungen werden, wenn Deutschland künftig stärker auf europäische Initiativen Bezug nimmt und Europa besser einbezieht. (Roland Benedikter, Verena Nowotny, derStandard.at, 17.7.2014)