
Variationen über Jonke: Komponistin Susanna Ridler.
Wien - Dorfplätze sind mitunter tückische Orte: Sie zu überqueren bedeutet, gesehen zu werden. Und sich prüfender Beobachtung durch die Gemeinschaft auszusetzen. Als Susanna Ridler die ersten Sätze von Gert Jonkes Geometrischem Heimatroman las, in denen zwei Menschen beschließen, vorerst nicht über den Dorfplatz zu gehen, fühlte sie sich zurückversetzt "in meine Kindheit. Ich kannte dieses Gefühl, nicht über den Dorfplatz gehen zu wollen, da ich nicht beobachtet, nicht kontrolliert werden wollte. Für mich steht hinter Jonkes Sätzen auch die Auflehnung gegen die Dorfstruktur, das Flüchtenwollen."
Dass Ridler jenes Bild zu einer Forschungsreise durch das OEuvre Jonkes veranlasste, deren Resultat am Sonntag als Geometrie der Seele beim Carinthischen Sommer seine Uraufführung erlebt, hat mit konkreten Erinnerungen zu tun: an den Dorfplatz von Waldhausen im oberösterreichischen Strudengau, wo sie im elterlichen Gasthaus aufwuchs. Beides - Platz und Haus - steht für die in Wien lebende Sänger-Komponistin rückblickend für jene geistige Enge und Normenstarre, denen es zu entfliehen galt.
Nach Los Angeles und zurück
Ridlers Weg hinaus, zur künstlerischen Selbstfindung, war nicht einfach: Er führte zunächst nach Wien, zum Musical- und Schauspielstudium. Dann zur Jazzgesangsausbildung nach Maastricht, Amsterdam und Los Angeles. 2001 landete sie gegen ihren Willen wieder in Wien: Die US-Aufenthaltserlaubnis war nicht verlängert worden. "Ich musste von Neuem beginnen. In mir war nun aber der Wunsch stark, nach einem eigenen Sound zu suchen", so Ridler, die schließlich ihren Bankberater fragte, "ob ich mein Konto überziehen könnte. Danach stand der erste - damals noch sauteure - Laptop auf meinem Schreibtisch. Und für mich begann etwas Neues."
Ridler begab sich jahrelang auf Tauchstation, um sich in die Welt digitaler Klangproduktion einzuarbeiten. 2008 meldete sie sich mit einem späten, aber umso reiferen Debüt zu Wort: Auf [koe:r] choreografierte sie überraschungsreich auskomponierte, elektronisch-akustische Soundscapes, in denen sie Standards wie Jobims Corcovado oder Gershwins Summertime auf fantasievolle, entspannte Weise dekonstruierte. Der Zweitling Susystems (2012) verschob den Akzent in Richtung substanzvoller eigener Songs.
Ridler: "Ich empfand meine Stimme nie als so charakteristisch, hatte nicht den Ton einer Rachelle Ferell oder Shirley Horn. Ich habe deshalb bewusst versucht, an etwas Eigenem zu arbeiten. Durch die Konzerterfahrungen der letzten Jahre weiß ich, dass ich auch in der Improvisation mit meiner Stimme weitersuchen muss. Nicht in Richtung Scat-Gesang, es geht eher um ein Eintauchen in die Emotion. Und um die Arbeit mit Texten. Ich versuche, im Gesang auch Sprache zu dekonstruieren, mit Sound und Silben zu arbeiten. Da hat sich für mich eine neue Tür geöffnet."
Im Rahmen des aktuellen Projekts, das auch die Premiere von Ridlers nunmehr fixer Duokooperation mit Bassist Peter Herbert bedeutet und bei dem sich Saxofonist Wolfgang Puschnig als "Sänger ohne Worte" hinzugesellen wird, soll die Expedition durch Gert Jonkes literarische Gedankenwelt am Ende "in eine schöne Auflösung" münden, so Ridler, die bewusst nicht mehr verrät.
Vielleicht hat diese Auflösung ja damit zu tun, dass Ridler heute nicht mehr zögert, über den Dorfplatz zu gehen. Sondern als Musikerin ihre Schritte selbstbestimmt und selbstbewusst setzt. (Andreas Felber, DER STANDARD, 18.7.2014)