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Ohne Widerspruch erstarrt die Gesellschaft: "Conchita ist derzeit die einzige Figur, die das kreative und subversive Element der rituellen Homosexualität überzeugend repräsentiert."

Foto: AP / Hans Punz

Die Aufregungen um die Preisverleihung an Conchita Wurst haben sich längst gelegt - Zeit, einen Blick auf die Kulturgeschichte zu werfen. Da entdeckt man etwas Erstaunliches: Was Conchita im Song Contest vorgeführt hat, gab es bei den Naturvölkern in Neuguinea schon lange. Der Ethnologe Gregory Bateson hat das 1936 in seinem berühmten Klassiker mit dem Titel Naven beschrieben.

"Naven" ist der Name für eine Travestiezeremonie, in der ein Mann als Frau verkleidet auftritt. Der Rollentausch wird bühnenreif als Akt der Rache im Kampf der Geschlechter dargestellt. Dabei geht Rache (vengeance) in Vergeltung (retribution) über, die Beteiligten verwandeln sich, nehmen eine neue soziale Identität an. Bateson erklärt den Unterschied zwischen Rache und Vergeltung so, dass Rache grenzenlos zerstörerisch ist, während Vergeltung sich im Rahmen der lex talionis hält. Das Naven-Ritual steht somit für eine Humanisierung der entfesselten Leidenschaften bei einer Kränkung durch Trennung oder Verletzung. Genau so heißt es im Phoenix-Song: "Seeking rather than vengeance / Retribution / You were warned / Once I'm transformed."

Ich weiß nicht, was der Autor der James-Bond-Ballade, Alexander Zukowski, sich dabei gedacht hat, aber offenbar mehr als den meisten Hörern bewusst ist. Schließlich geht es um Leben und Tod. Die Verknüpfung des Themas Rache / Vergeltung mit dem Phoenix-aus-der-Asche-Motiv verweist auf den existenziellen Ernst der Situation, in der sich Außenseiter der Gesellschaft befinden. Vor diesem Hintergrund bekommt Conchitas Performance eine neue Dimension, die alles übertrifft, was Travestiekünstler bisher geboten haben. Die interkulturelle Dimension lässt den Euro(visions)-Zentrismus weit hinter sich. Mehr noch: Damit rückt auch das Thema Homosexualität in ein anderes Licht.

Der in der gegenwärtigen Debatte kaum berührte Aspekt der Homosexualität betrifft das Selbstverständnis der Betroffenen, das in allen Kulturen durch eine gewisse Gefühlsambivalenz geprägt ist. Gerade ihre Exzentrizität hat der Homosexualität eine subversive geistige Dimension verliehen. Das gilt für die Homosexualität der griechischen Antike ebenso wie für die europäische Moderne. Man denke nur an Oscar Wilde oder André Gide.

Der Immoralismus ihrer Geschichten, die das Bildungsbürgertum aus dem Schlummer der christlichen Sexualmoral gerissen haben, wäre undenkbar, wenn die Autoren, wie heute üblich, als normale Paare zusammengelebt hätten. Durch die Gleichstellung verliert Homosexualität viel von ihrer Kreativität. Sie erzeugt keine Provokationen mehr, eher kleinbürgerliche Nachahmungen und Anpassungen, der weibliche Partner mit Küchenschürze, der männliche fährt das Cabrio.

In der Naven-Zeremonie dagegen ist Homosexualität ein erregendes Ritual, das die heutige Streitfrage, ob man sie als Eigenschaft oder als Verhalten einstuft, als unerheblich hinter sich lässt. In der Travestie als Kunstform des Transvestitismus liegt die Provokation, die unsere kleinbürgerliche Gesellschaft bräuchte. Provokation erzeugt Widerspruch, ohne den eine Gesellschaft in der Normalität erstarren würde. Conchita ist derzeit die einzige Figur, die das kreative und subversive Element der rituellen Homosexualität überzeugend repräsentiert. Schön wäre es, wenn sie sich einmal entschließen würde, in der Aufmachung eines Travestiekünstlers aus Neuguinea aufzutreten. Die Aufmerksamkeit der ganzen Welt wäre ihr gewiss. (Ferdinand Fellmann, Album, DER STANDARD, 19./20.7.2014)