Menschen sehen manchmal Dinge, die gar nicht da sind. Wie zum Beispiel Diane Duyser aus Florida. Im Jahre 1994 biss sie in ein Toastbrot, legte es zurück auf den Teller und sah auf dem Gebäck ganz deutlich das Gesicht der Gottesmutter Maria. In New Mexico war das zuvor auch schon mal vorgekommen, allerdings mit einer Tortilla. Manchmal spielt uns die Wahrnehmung einen Streich. Oder unser Wunschdenken. "Clustering Illusion" nennen das Psychologen, wenn Menschen plötzlich Muster sehen.

Musste zuletzt gerade der Fußball als Toastbrot herhalten? WM-Jubel verstärke Hurra-Patriotismus und Nationalismus, meinten Experten wie der Bielefelder Erziehungswissenschafter Wilhelm Heitmeyer. Auf der Seite "Fußball gegen Nazis" konnte man die No-Gos für das Public Viewing nachlesen: "Hitlergrüße vor Begeisterung. Passiert immer wieder mal (...) Sollten Sie den Eindruck haben, dass sie die gerne einsetzen würden, hinterfragen Sie, wo Sie das gelernt haben, und lassen Sie es. Egal, was Sie sich dabei denken mögen: Für Außenstehende gibt es keine andere Interpretation als: Das ist ein Nazi. Strafbar ist es auch."

Offenbar glimmte für manchen Beobachter in jedem Deutschen noch der Restglaube an ein Übermenschentum, der in Momenten sportlicher Erfolge bei Großereignissen stichflammenmäßig auflodert.

Ausbruch der Affekte

Zugegeben: Jubel bei der Fußball-WM und nationalistisches Gedankengut haben durchaus Berührungspunkte. Beide sind im Grunde parasitäre Affekte, ein Ausbruch von Stellvertretungs- und Identifikationsstolz mit einem Zustand oder Ereignis, zu dem man selbst zwar nichts beigetragen hat, über das man jedoch eine geistige Verbindung zu anderen suchen kann.

Und trotzdem sollte man nicht paranoid werden. 22 Spieler sind eben keine Truppenformation. Laola-Wellen keine beidarmigen Hitlergrüße. Kollektiver Torjubel ist kein Reichsparteitag. Und auch der Gaucho-Tanz, der von ein paar deutschen Nationalspielern auf der Fanmeile Berlins aufgeführt wurde und große mediale Aufmerksamkeit erntete, ist nicht als nationalistische Überheblichkeitsgeste zu deuten, sondern als harmlose fußballbetriebsinterne Spöttelei.

Nationalismus setzt stets eine bedingungslose Identifikation bezüglich eines einzigen Merkmals voraus. Stimmt das auf den Fußball bezogen? Fußballbegeisterung ist oft keine starre, sondern eine dynamische Kategorie. Wer gut spielt, wird gefeiert, selbst wenn er verliert, als Gewinner der Herzen. Man kann als Deutscher von italienischer Taktik und brasilianischem Ballzauber angetan sein, oder sich, wie zuletzt drei englische Fans, mit Schwarz-Rot-Gold auf den Wangen zeigen. Wer nur jubeln und feiern will, findet immer einen Grund.

Kein Jubel für den Staat

Natürlich sieht man bei der WM das Deutschland-Wappen und hört vor dem Spiel die Hymne. Doch dabei darf man nicht vergessen, dass es sich um eine private Veranstaltung handelt, keine offizielle. Sport und Staat lassen sich durchaus voneinander losgekoppelt denken. Wer sich für die deutsche Nationalelf freute, jubelte wegen einer sportlichen Leistung und nicht für Deutschland als Staat, allenfalls vielleicht noch für "Schland". Der Fußball schafft sich seine eigenen Kategorien. Wenn es sein muss, durch Verfremdungsbegriffe.

Schwarz-Rot-Gold ist auf dem Fußballfeld vor allem ein Erkennungszeichen. Hätten die deutschen Spieler kleine rosa Elefanten auf den Trikots, würden sich die Leute eben diese an ihre Autos kleben und an ihre Wangen schmieren. Seit den Wagenrennen im alten Rom ist das schon so.

Das Patriotismus-Gerede war deshalb eine Phantomdebatte. Der Fußball bringt nichts hervor, was zuvor nicht schon da war. Die Amerikaner feierten trotz Ausscheidens aus dem Turnier ihren 4. Juli. Was wäre das auch für ein Patriotismus, der vom Ergebnis eines Fußballspiels abhängig wäre?

Der Kronen-Zeitung-Kolumnist Michael Jeannée, der nach dem deutschen Sieg gegen Brasilien im Halbfinale von "Endspielsieg" und "Jogi, Jogi über alles" fabulierte, entgleiste nicht zum ersten Mal und schon gar nicht wegen der WM. Es wird bei den nächsten Wahlen in Deutschland keine höhere Wahlbeteiligung geben, nur weil Deutschland jetzt Weltmeister geworden ist. Von Illusionen kann man sich nichts kaufen. Außer vielleicht Diane Duyser. Sie versteigerte ihr Gottesmutter-Toastbrot später erfolgreich auf ebay: für 28.000 Dollar. (Milosz Matuschek, DER STANDARD, 19.7.2014)