Wan Qingliang, der Parteichef der chinesischen Zwölf-Millionen-Einwohner-Metropole Kanton, war auf der Karriereleiter auf dem Weg nach ganz oben. Im November 2012 war er auf dem 18. Parteitag zum Kandidaten des Zentralkomitees gewählt worden.
Der 50-Jährige war in jeder Hinsicht ein Vorbild und offenbar nicht korrupt. Er wohne in einer 130-Quadratmeter-Mietwohnung, habe es in mehr als 20 Jahren Dienst als Funktionär noch zu keinem Eigenheim gebracht, sagte er 2011.
Kantoner Regionalzeitungen lobten ihn dafür, wie er der Parteikampagne zur "Kritik und Selbstkritik" mit gutem Beispiel voranging. Sich selbst und seine Genossen forderte er dazu auf, alle eigenen Fehler wie auch die der anderen schonungslos zu brandmarken: Kritik und Selbstkritik müssten scharf wie Pfefferschoten sein.
Zum Abschuss freigegeben
Doch Wan war da schon zum Abschuss freigegeben: Am 27. Juni, am selben Tag, an dem ihn die Zeitungen noch priesen, holte ihn ein Trupp Pekinger Parteiwächter direkt aus einer Sitzung heraus. Ein Handyfoto zeigt Wan, wie er den einheitlich in hellblauen Hemden und dunklen Hosen gekleideten Pekinger Funktionären vorangeht. Sie wurden direkt vom Politbüro geschickt.
In der fernen Hauptstadt erschien auf der Webseite der gefürchteten ZK-Kommission für Disziplinkontrolle, die direkt den höchsten Parteiführern China unterstellt ist, eine kurze Mitteilung: Wan wurde darin nicht einmal mehr "Genosse" genannt: "Wan Qingliang steht unter Verdacht, schwerwiegend gegen Parteidisziplin und Recht verstoßen zu haben.“ Mit anderen Worten: Der Mann sei total korrupt. Drei Tage später setzte ihn das ZK-Organisationskomitee als Kantoner Parteichef ab. Peking machte kurzen Prozess.
Nacht-und-Nebel-Aktionen
Wan teilt das Schicksal von derzeit hunderten hochrangigen Politikern, die seit Amtsantritt von Parteichef Xi Jinping im November 2012 in Nacht-und-Nebel-Aktionen von der ZK-Polizei einkassiert wurden. Bisher waren es, wie die "Beijing News" meldete, landesweit rund 500 Funktionäre. Unter ihnen auch dutzende Vizegouverneure und Vizeminister, zwei ZK-Mitglieder und drei ZK-Kandidaten.
"Schlacht gegen die Tiger", titelte das finanzpolitische Magazin "Caixin". Die Zeitschrift widmet der neuen Parteisäuberung ihre Titelgeschichte: „600 Tage Kampf gegen Korruption.“ Es ist die erste umfassende Bilanz, seit Xi der Nation den großen Kehraus versprach, bei dem er "weder Fliegen noch Tiger" verschonen wolle.
Die Liste der hochrangigen Opfer führt der 71-jährige General Xu Caihou an, der 2004 bis 2012 Vize-Militärchef Chinas war. Von den festgenommenen Spitzenfunktionären wurden zuletzt drei offiziell verhaftet und den Gerichten zur Aburteilung übergeben, nachdem sie die Partei in monatelangen Verhören weichgeklopft hatte: Jiang Jiemin, einst Oberaufseher über Chinas Staatseigentum, Wang Yongchun vom Öl- und Gaskonzern CNPC und Vizepolizeiminister Li Dongsheng. Ihnen drohen lebenslange Haftstrafen.
Ehemalige Verbündete eines Polizeichefs
Alle drei gelten als ehemalige enge Verbündete des früheren Polizeizaren Zhou Yongkang, der bis 2012 als Mitglied des ständigen Politbüroausschusses einer der neun mächtigsten Männer Chinas war. Hongkongs "South China Morning Post" bezeichnete ihre Verhaftung als "Schlussakt vor der ganz großen Tigerenthüllung". Sie meldete, dass ein KP-Parteitag vermutlich im September dann auch öffentlich den Daumen über Zhou als größten Korruptionsfall der Geschichte Chinas senken wird.
Seit Monaten zieht sich die Schlinge um Zhou zusammen, der seinen Aufstieg in die höchste Macht über die Provinz Sichuan, als Chef der chinesischen Ölindustrie, als Minister für Land und Ressourcen und als Polizeiminister erreichte. Peking hat über seine Parteiwächter alle alten Seilschaften entlang seiner Karrierestationen ausgehoben, sogar seine Familienmitglieder festgenommen.
Öffentlich darf der Name Zhou noch nicht genannt werden. Die Enthüllungen in "Caixin" spielen aber ständig auf ihn an. Dies nährt Vermutungen, dass Parteichef Xi die Bekämpfung von Korruption als Vorwand zur Abrechnung mit seinen Gegnern nutzt.
"Wirbelsturm"
Doch inzwischen geht die Kampagne weit darüber hinaus. Sie hat sich, so schreibt die Zeitschrift "Nanfengchuang", zu einem "Wirbelsturm" entwickelt, der in jede Ecke hineinbläst. Seit Mai 2013 schickt das Politbüro seine ZK-Inspektoren überall ins Land, um Korruptionsfällen nachzuspüren, und verlangt rasche Resultate. Die "Beijing News" schrieb: Früher dauerten landesweit angeordnete Inspektionen fünf Jahre. Jetzt kommt Xi mit "zwei Jahren" aus.
Von Februar bis Mai 2014 war die inzwischen dritte Großgruppe von ZK-Inspektoren in zehn Provinzen und vier Staatsinstitutionen unterwegs. Sie sprachen jetzt in Peking drohend über "schwerwiegende Probleme", die sie überall antrafen, Korruption im Bau- und Immobilienwesen, bei den Staatsbetrieben, in der Vermischung von Amts- und Wirtschaftsinteressen, Kauf und Verkauf von Beförderungen, bis auf das weitverbreitete Phänomen der "nackten Beamten", die ihre Familien und ihre illegal erworbenen Besitztümer in Sicherheit ins Ausland gebracht haben. Nun werden bald viele weitere hochrangige Köpfe rollen.
Funktionäre in geheimer Parteihaft
Die allmächtigen Parteiwächter dürfen jeden noch so hochrangigen Funktionär in ihre geheime Parteihaft nehmen, ohne dass er Zugang zu Anwälten oder Richtern hat und ohne Information seiner Familie. Sie nennen es "Shuanggui" (doppelte Festlegung), jemanden solange an "einem festgelegten Ort zur festgelegten Zeit" festhalten und verhören, bis er gesteht. und sie ihn der Aburteilung durch die Justiz übergeben können.
Die vom Politbüro mit übergesetzlichen Vollmachten ausgestatteten ZK-Revisoren können jeden Parteifunktionär in Geheimhaft nehmen. Sie überrumpeln ihre Opfer nach langer Beobachtung, kommen meist abends oder nach Mitternacht. Nankings Bürgermeister Ji Jianye wurde etwa um zwei Uhr früh zu Hause abgeholt.
Wie Chinas Zeitschrift "Jingu Chuanqi" schrieb, reagierten die meisten verschleppten Funktionäre anfangs völlig verstört, würden sich in den ersten Tagen wehren, versuchten, sich zu orientieren, wo sie sind und warum sie festgenommen wurden. Die meisten bräuchten eine Woche, bis sie kooperierten. Inzwischen sind auch erste Fälle tödlich ausgehender Folter bekannt geworden.
Die sich ausweitende Verfolgung der "Tiger" sowie massenweise Abmahnungen und Degradierungen der "Fliegen" – allein in ersten fünf Monaten 2014 wurden 63.000 Parteimitglieder wegen leichterer Disziplinverstöße bestraft – haben Furcht und Schrecken verbreitet. Das schlägt sich inzwischen auch in Selbstmorden unter belasteten Parteikadern und Konzernführern nieder. Peking möchte davon nichts hören.
Keine Sympathie für Korrupte
Öffentliche Kritik am "Shuanggui"-System ist selten zu hören und trifft auf Widerspruch. Denn Chinas Volksmeinung hegt keine Sympathien für festgenommene KP-Funktionäre, die sie ohnehin für korrupt hält. Nur wenige Juristen wie der im Juni verhaftete Menschenrechtsanwalt Pu Zhiqiang kündigten Anfang des Jahres an, sie wollten einen Feldzug zur Abschaffung des mit rechtstaatlichen Grundsätzen unvereinbaren Shuanggui-Parteihaft-Systems führen. Es öffne totalitärem Missbrauch Tür und Tor. Vermutlich ist das einer der Gründe, die zu seiner Festnahme führten.
Seit kürzlich der "Caixin"-Bericht erschien, sind weitere hohe Funktionäre in den Provinzen, aber auch den Medien oder den Gerichten unter Korruptionsbeschuldigung festgenommen worden. Die Säuberungskampagne weitet sich aus. Caixin glaubt, dass das dicke Ende erst noch kommt. "600 Tage dauert nun die Jagd auf die Tiger. Wenn noch einmal 360 Tage vorbei sind, werden wir dann Nachrichten von noch größeren erlegten Tigern erhalten? Das fragen sich derzeit alle im Volk.“ (Johnny Erling aus Peking, DER STANDARD, 22.7.2014, Langfassung)