Heidelberg - Die Lage ist bereits ernst, aber es geht noch schlimmer: Von einem irgendwo in Lunge, Leber oder Bauchspeicheldrüse wuchernden Tumor lösen sich einzelne Zellen ab und gehen auf Wanderschaft. Normalerweise haben solche Vagabunden keine lange Lebensdauer. Sie erleiden den vorprogrammierten Zelltod oder werden vom Immunsystem beseitigt. Doch manche Tumorzellen sind anders. Ihnen gelingt es, sich gegenüber den Abwehrkräften zu tarnen, in einem fremden Gewebe sesshaft zu werden und sich weiterzuteilen, weitab des ursprünglichen Krankheitsherdes.
Das Auftreten solcher Fernmetastasen galt lange als fatale Entwicklung, erklärt der Facharzt David Palma vom kanadischen Forschungsinstitut London Health Sciences Centre im Gespräch mit dem STANDARD. "Wenn der Krebs auf die Reise gegangen ist und sich in anderen Bereichen des Körpers niedergelassen hat, wurde er als unheilbar betrachtet." Der Hintergrund: Sobald sich Tochtergeschwülste bilden, steigt ihre Anzahl normalerweise rasch an.
Sie sind zunächst winzig und mit den bisherigen technischen Möglichkeiten kaum nachzuweisen. "Im Allgemeinen können wir Metastasen erst ab einer Größe von fünf bis zehn Millimetern aufspüren", sagt Palma. Eine vollständige Ausrottung der Tumorkeime wird dadurch praktisch unmöglich. Dementsprechend behandelte man die Betroffenen nur noch palliativ zur Linderung von Schmerzen und anderen Symptomen. Inzwischen jedoch glauben viele Mediziner an die Existenz eines oligometastatischen Zustands - eines Krankheitsstadiums, in dem sich erst wenige Metastasen gebildet haben. Diese lassen sich durchaus gezielt bekämpfen, sagen viele Fachleute.
Die Thematik ist gleichwohl nicht unumstritten. Zwar erhalten immer mehr Menschen mit Krebsmetastasen eine auf Heilung ausgerichtete Behandlung, aber der Erfolg solcher Eingriffe ist oft fraglich, wie Palma betont. Laut einer von ihm und drei seiner Kollegen durchgeführten Analyse erleiden zum Beispiel gut 51 Prozent der Patienten mit mutmaßlichem oligometastatischem Lungenkrebs innerhalb von nur zwölf Monaten nach der Zerstörung der Tochtergeschwülste einen Krankheitsrückfall (vgl.: "Lung Cancer", Bd. 82, S. 197). Später tauchen bei noch mehr Behandelten neue Tumoren auf. Nur wenige überleben länger als fünf Jahre.
Therapeutische Optionen
Die Bekämpfung der Metastasen erfolgt in der Regel chirurgisch oder durch Bestrahlung. Mitunter werden beide Ansätze kombiniert. Solche aggressiven Therapien können jedoch erhebliche Nebenwirkungen hervorrufen und die Lebensqualität der Patienten schwer beeinträchtigen, sagt Palma. Ist es das wert, angesichts der wenigen Zeit, die ihnen vielleicht noch bleibt, und lässt sich dadurch wirklich eine signifikante Lebensverlängerung bewirken? "Das müssen wir sehr vorsichtig abwägen." Sonst artet die Behandlung womöglich in eine sinnlose Quälerei aus.
Palma kann allerdings auch über beachtliche Einzelerfolge berichten. "Es gibt einige Patienten, bei denen wir ein sehr langfristiges Überleben erreichen können." Bis zu 20 Jahre seien möglich. In manchen Fällen scheint ein oligometastatischer Zustand also tatsächlich zu existieren, sagt der Experte. Dessen zuverlässige Erkennung indes bleibe nach wie vor schwierig. Fachleute hoffen auf verbesserte Visualisierungstechniken, die in den kommenden Jahren das Aufspüren von kleineren Tochtergeschwülsten ermöglichen sollten. Auf der molekularbiologischen Ebene eröffnen sich ebenfalls interessante Perspektiven. Der genetische Fingerabdruck von Tumorzellen bietet Einblick in ihr Wachstums- und Verbreitungspotenzial - auch bei Metastasen. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Behandlung ist jedoch die Bekämpfung des primären Tumors, betont David Palma. Nur so könne verhindert werden, dass dieser ständig neue Krebskeime freisetzt.
In den vergangenen Jahren hat sich die sogenannte stereotaktische Radiotherapie als besonders wirksam bei der Zerstörung von Metastasen hervorgetan. Hierbei nimmt man die Geschwülste von mehreren Seiten gleichzeitig, entweder mit Elektronen in Form von hochenergetischen Röntgenstrahlen oder mit Protonen, Alphastrahlung, unter Beschuss. Die sehr hohe Dosis an Radioaktivität wird millimetergenau eingesetzt, das umliegende Gewebe kaum in Mitleidenschaft gezogen. Ihre Wirkung entfaltet die Strahlung vor allem in der DNA der Krebszellen. Stränge werden gebrochen, Bausteine herausgerissen. Derart geschädigte Gene können nicht länger als Grundlage für die Produktion von lebenswichtigen Enzymen und anderen Proteinen dienen. Der Stoffwechsel kommt zum Erliegen, die Zelle stirbt.
Genetische Typologisierung
Stereotaktische Radiotherapie ist besonders in sensiblen Körperregionen von Vorteil - dort, wo ein chirurgischer Eingriff riskant ist, etwa in den tieferen Bereichen des Gehirns. In anderen Arealen dagegen kann es sinnvoll sein, ein Geschwulst operativ zu entfernen. Man hat dann auch Tumorgewebe für genetische und histologische Untersuchungen zur Verfügung, erklärt Palma. Die daraus gewonnene Information kann enorm zum Erfolg der weiteren Behandlung beitragen. Oft ist jedoch die körperliche Verfassung des Patienten ausschlaggebend, wie der Mediziner erläutert. Manch einer würde eine OP nicht überleben. Da bleibt einzig die Bestrahlung als möglicher Rettungsweg. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 22.7.2014)