Die Fakten rund um den Absturz der Passagiermaschine MH17, die am vergangenen Donnerstag mit 298 Menschen an Bord über dem umkämpften Osten der Ukraine abgestürzt ist, sind noch sehr dürftig. Als gesichert gilt jedoch, dass die Piloten keinen Notruf sendeten und das Flugzeug eine einwandfreie Wartungsgeschichte aufwies. Sowohl das russische als auch das ukrainische Militär verfügen über das Flugabwehrsystem Buk.

Nach dieser überschaubaren Faktenlage beginnen bereits die Spekulationen: Ein Abschuss der Maschine mit dem Flugabwehrsystem Buk gilt mittlerweile als wahrscheinlich. Fotos von Wrackteilen liefern nach Angaben der "New York Times" Indizien dafür: Experten der auf die Verteidigungsbranche spezialisierten Beratungsfirma IHS Jane's stellten fest, dass die auf Bildern sichtbaren Schrapnellspuren klar auf einen Raketentreffer hindeuten. Die SA-11-Raketen des Buk-Systems verfügen den Angaben zufolge über einen Splittergefechtskopf, der 30 bis 100 Meter vom Ziel entfernt detoniert.

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Die Schrapnellspuren sollen auf einen Raketentreffer hindeuten.
Foto: AP Photo/Dmitry Lovetsky

Die Durchlöcherung der Wrackteile lasse darauf schließen, dass das Passagierflugzeug der Malaysia Airlines von vielen kleinen Metallteilen getroffen worden sei, hieß es. Die Form der Löcher und den abgeplatzten Lack an der Außenwand werteten die Experten demnach als Indiz dafür, dass die Splitter nach innen in die Maschine eingedrungen seien. Wer aber die Raketen abgeschossen hat, darüber gehen die Meinungen auseinander.

Die Version der Ukraine und der USA

Die ukrainische Regierung behauptet, dass die prorussischen Separatisten in der Ostukraine mit einem Buk-System auf die Boeing geschossen hätten. "Wir haben Satellitenbilder des Abschussortes sowie Fotos und Videos eines Raketenabwehrsystems, was auf Waffentransporte aus Russland hindeutet", sagte Präsident Petro Poroschenko am Sonntag.

Die Indizien in diese Richtung häufen sich: Der einflussreiche Rebellenkommandant Alexander Chodakowski hat in einem am Mittwoch veröffentlichten Reuters-Interview eingeräumt, dass die Separatisten über Buk-Luftabwehrraketen verfügt haben. Das Buk-System stamme möglicherweise aus Russland, sagte Chodakowski. Es könne sein, dass es dorthin zurückgebracht worden sei, um zu verschleiern, dass die Rebellen darüber verfügt hätten.

Gegenüber dem Staatsfernsehsender "Russia Today" dementierte Alexander Chodakowski wenig später seine Aussage. "Ich habe keine Kenntnis davon, dass die Aufständischen eine solche Waffe besitzen", sagte er am Donnerstag. Reuters-Journalist Peter Graff, der das Interview führte, gibt an, über eine Aufzeichnung des Gesprächs zu verfügen und besteht auf der Korrektheit seines Texts. Am Donnerstagmittag wurde dann ein Video der umstrittenen Aussagen veröffentlicht.

Zudem hat ein namentlich nicht genannter Milizionär im Gespräch mit der italienischen Zeitung "Corriere della Sera" bestätigt, dass die Maschine von den Separatisten irrtümlich abgeschossen wurde. "Wir haben gerade eine Maschine der Faschisten aus Kiew abgeschossen, haben unsere Kommandanten gesagt", berichtete der Mann dem "Corriere" vom Dienstag. Neben der Meldung, man habe soeben eine ukrainische Transportmaschine abgeschossen, sei dann auch eine Warnung gekommen: "Wir sollten darauf gefasst sein, eventuell mit dem Fallschirm abgesprungene Besatzungsmitglieder bekämpfen zu müssen, es seien weiße Objekte zwischen den Wolken gesichtet worden."

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Ein Wrackteil an der Absturzstelle.
Foto: EPA/IGOR KOVALENKO

Zudem verbreitete der ukrainische Geheimdienst SBU Telefonmitschnitte zwischen zwei Rebellenführern, die abgehört worden seien. In den Tonaufnahmen sagt einer der beiden Abgehörten: "Es waren die Burschen von der Straßensperre Tschernuchin, die das Flugzeug abgeschossen haben, Major." Am anderen Ende der Leitung fragt jemand: "Ja und, Grek?" Die Antwort: "Es war ein zu hundert Prozent ziviles Flugzeug." Die USA behaupten nach einer Stimmanalyse zu wissen, um welche zwei Rebellenführer es sich handelt.

Nikolaj Popow, beim russischen Inlandsgeheimdienst FSB für die Analyse von Tondokumenten zuständig, bezeichnet die Tonaufnahmen hingegen als eine Collage aus mehreren Fragmenten, die der ukrainische Geheimdienst zusammengeschnitten habe. Einer der Schnipsel stamme vom Tag vor der Katastrophe – da hatten die Separatisten eine ukrainische Militärmaschine abgeschossen. Der SBU habe ihn jedoch so manipuliert, als ob es um die malaysische Boeing gehe.

Rebellen-Eintrag in sozialem Netzwerk

Nur 17 Minuten nach dem Absturz der Maschine soll nach Angaben der ukrainischen Regierung der Separatistenführer Igor Strelkow auf der russischen Internetplattform VKontakte geschrieben haben: "Wir haben gerade eine An-26 abgeschossen" - ein Transportflugzeug aus sowjetischer Produktion, das auch im Dienst der ukrainischen Luftwaffe steht.

Neben dem Eintrag in dem sozialen Netzwerk war Videomaterial zu sehen, das stark den Aufnahmen vom Absturzort der malaysischen Maschine ähnelte. Zudem schrieb Strelkow, das von den Rebellen abgeschossene Flugzeug sei nahe der Mine Progress niedergegangen - unweit der Absturzstelle von MH17. Wenig später wurde der Eintrag wieder gelöscht. Strelkow bestreitet den Vorwurf - der Eintrag auf VKontakte stamme gar nicht von ihm.

Russland involviert

Die USA und die Regierung in Kiew machen also die Separatisten in der Ostukraine für den Absturz verantwortlich. "Wir besitzen kein geeignetes Kriegsgerät", sagte aber Separatistenführer Fjodor Beresin der russischen Zeitung "Moskowski Komsomolez" als Reaktion auf die Vorwürfe. Auch Separatistenführer Alexander Borodaj sagte im BBC-Interview, dass die Rebellen über keine Buk-Raketen verfügen würden.

Die "Washington Post" berichtete hingegen unter Berufung auf einen US-Regierungsvertreter, dass die Separatisten von Russland das Buk-System erhalten hätten. Nach dem Absturz seien die verbliebenen Raketen in der Nacht auf Freitag wieder auf russisches Territorium geschafft worden.

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Das ukrainische Innenministerium behauptet, auf diesem Videoausschnitt sehe man ein Buk-Raketensystem, das am Freitag in Richtung russische Grenze transportiert wurde.
Foto: AP Photo/Ukrainian Interior Ministry

Wie der US-amerikanische TV-Sender NBC und andere US-Medien am Mittwoch aus Geheimdienstkreisen berichteten, habe der US-Geheimdienst aber bisher keine Beweise für eine direkte Beteiligung Russlands.

Zudem bezweifelt Douglas Barrie, Luftfahrtexperte des International Institute for Strategic Studies in London, im "Wall Street Journal", dass die Separatisten in der Lage seien, das Raketensystem überhaupt zu bedienen. "Das ist kein System, das man einfach in die Hand nehmen und benutzen kann", so Barrie.

Die Version Russlands und der Separatisten

Die Separatisten haben eine andere Version der Geschehnisse: Augenzeugenberichten zufolge habe ein Kampfjet der ukrainischen Luftwaffe die Boeing 777 angegriffen. Diese sei anschließend in zwei Teile zerbrochen und der Kampfjet abgeschossen worden. Über das Wrack eines abgeschossenen Kampfjets liegen bislang aber keine Berichte vor.

Auch Russland beschuldigt Kiew: Ein Kampfjet vom Typ Suchoi-25 sei auf die Boeing zugeflogen, sagte Generalleutnant Andrej Kartopolow vom russischen Generalstab. "Die Entfernung der Su-25 zur Boeing lag zwischen drei und fünf Kilometern." Das ergebe sich aus Aufzeichnungen der russischen Flugüberwachung. Ein solcher Kampfjet sei mit Luft-Luft-Raketen bewaffnet, die auf diese Entfernung ein Ziel hundertprozentig zerstören könnten.

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Ein ukrainischer Su-25-Kampfjet auf einem Archivbild aus dem Jahr 2009.
Foto: EPA/SERGEY POPSUEVICH

Der ukrainische Präsident Poroschenko wies die russischen Anschuldigungen zurück: Alle im Umfeld des Absturzorts befindlichen ukrainischen Jets seien zum Unglückszeitpunkt auf dem Boden gewiesen, sagte er in einem Interview mit dem Nachrichtensender CNN.

Russland hingegen legte am Montag Satellitenaufnahmen vor, auf denen nach Angaben des Generalstabs auch die Stationierung von ukrainischen Buk-Systemen im Separatistengebiet zu sehen sei. Moskau verlangte von Kiew eine Erklärung, weshalb dort solche Waffen aufgestellt würden, obwohl die Aufständischen keine Flugzeuge hätten.

Die Auswertung der mittlerweile von den Separatisten an niederländische Ermittler übergebenen Blackbox könnte Hinweise auf die Ursache des Absturzes liefern. Es gilt aber als unwahrscheinlich, dass die Blackbox einen Rückschluss auf die Urheber des Angriffs zulässt. Die Theorien und gegenseitigen Schuldzuweisungen zum Absturz von Flug MH17 werden also aufgrund der dünnen Faktenlage vermutlich auch in nächster Zeit nicht abnehmen. (maa, derStandard.at, 24.7.2014)