"Leben? Oder Theater?": Charlotte Salomons Biografie in Wort, Gesang und Bild (Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Moidele Bickel).

Foto: Alix Laveau

Komponist und Dirigent Marc-André Dalbavie.

Foto: Alix Laveau

Auftragsopern sollten Herzstück von Alexander Pereiras Intendanz sein. Für jede Saison ab 2013 habe er Kompositionsaufträge vergeben, verkündete er bei seinem Amtsantritt vor drei Jahren. Doch nun geht er vorzeitig. Und dann fiel auch noch die erste Uraufführung aus, weil György Kurtág nicht fertig wurde - seine Oper wird nächstes Jahr uraufgeführt (und von der Mailänder Scala, dem neuen Wirkungsfeld Pereiras, übernommen).

Auch beim französischen Komponisten Marc-André Dalbavie waren heuer gute Nerven gefragt: Die letzte Note seiner Oper Charlotte Salomon schrieb der Meister musikalischer Farbnuancierungen zwei Tage vor Probenstart.

Die Oper (Regie: Luc Bondy) ist eine Hommage an eine außergewöhnliche Frau und Künstlerin, die deutsche Malerin Charlotte Salomon. Das Libretto von Barbara Honigmann orientiert sich an deren musikalischem, malerischem und literarischem Gesamtkunstwerk, dem in der Emigration entstandenen Singspiel Leben? Oder Theater?

Salomon, vor den Nazis nach Südfrankreich geflohene deutsche Jüdin, "verlor alle ihre Bezugspunkte", so Dalbavie im Standard-Gespräch. "Ihre Mutter hatte sich das Leben genommen, als Charlotte neun war. Ihre Großmutter stürzte sich aus Angst vor den Nazis in Frankreich aus dem Fenster, viele Verwandte hatten sich ebenfalls selbst getötet. Charlotte aber wollte leben, die Kunst rettete sie vor dem Suizid, mit der Kunst schuf sie sich ihre Biografie, eine Mischung aus Erinnerungen und Fiktion." 1943 wurden Charlotte und ihr französischer Ehemann denunziert, deportiert und in Auschwitz ermordet.

2010, als in Zürich seine Oper Gesualdo uraufgeführt wurde, stieß Dalbavie in einer Ausstellung auf Salomons unbändiges Werk und war fasziniert von der Verbindung von Musik und visueller Kunst: Auf hunderten Gouachen malte und fantasierte und erdachte die damals 22-Jährige innerhalb von 18 Monaten ihre Familiengeschichte, notierte Texte, Zitate und musikalische Bezüge in die Bilder: "Ich war fasziniert und bezaubert von ihrer Malerei, ihrer Sensibilität und ihrem Überlebenswillen. Für einen Komponisten ist es natürlich etwas Besonderes, dass sie immer sang. Oft kam zuerst die Musik, dann das Bild."

Als Pereira anfragte, ob er denn eine Oper für Salzburg komponieren wolle, sagte Dalbavie zu, behielt das Thema aber zunächst für sich: "Das ist das Großartige an Pereira: Er lässt die Künstler frei wählen und arbeiten. Für einen Komponisten ist es sehr wichtig, dass er die Musik zu einem Thema schreiben kann, das ihn interessiert."

Überhaupt: Es sei wichtig, eine Geschichte zu wählen, die mit Musik zu tun hat: "Man braucht eine Notwendigkeit zu singen. Sonst könnte man das Ganze ja auch im Kino erzählen." Denn natürlich sei da immer die Frage: Warum singen die Menschen, warum sprechen sie nicht? "Diese Frage stelle ich mir immer wieder. Auch bei Charlotte Salomon spielt Musik eine große Rolle. Sie sang und summte stetig, speziell, wenn sie malte." Die Titelpartie wird von einer Schauspielerin (Johanna Wokalek) und einer Sängerin (Marianne Crebassa) verkörpert.

Klassische Musik, Schlager, Unterhaltungsmusik, große Oper: "Der erste Akt ist voller Zitate der Melodien, die Charlotte im Kopf hatte, etwa 'L'Amour' aus Carmen. Charlotte war verliebt in ihre Stiefmutter, die Sängerin Paula Lindberg, und wirklich eifersüchtig auf ihren Vater. Lindbergs originale Carmen-Plattenaufnahmen hört man bei mir vom Band. Im zweiten Akt gibt es dann schon weniger Zitate und immer mehr meine eigene Musik - so wie Charlotte im Laufe der Zeit immer mehr wusste, wer sie war."

Strukturen des Klanges

Die Farbschattierungen, die Strukturen des Klangs auszuloten, eine neue Form der Harmonie zu schaffen, darum gehe es in der Spektralmusik, als deren Repräsentant Dalbavie gilt: "Sie ist eine Befreiung, eine Expansion, man greift auf Harmonien der Vergangenheit, der Gegenwart und einer unbekannten Zukunft zu. Deshalb kann ich auch, ohne zu verzerren, andere Musik integrieren. Ich wechsle zwischen Tonalität, Meta- und Atonalität. Es ist eine Menge Arbeit. Es wäre viel leichter, mich immer nur innerhalb eines Systems zu bewegen." (Andrea Schurian, DER STANDARD, 26./27.7.2014)