
Die Choreografin mischt auf der Bühne mit: Meg Stuart.
Wien - Wer einen echten Hochrisikobereich im zeitgenössischen Tanz erleben will, besucht am besten ein Improvisationsprojekt wie Sketches/Notebook, das die in Berlin beheimatete, aus den USA stammende Choreografin Meg Stuart zurzeit bei Impulstanz wagt.
Wie bereits bei ihren ersten Improvisationsprojekten in den späten 1990er-Jahren, Crash Landing und Highway 101, hat die heute 49-Jährige auch jetzt wieder spannende Gäste eingeladen: darunter den bildenden Künstler Vladimir Miller, den Musiker Brendan Dougherty, die Kostümdesignerin Claudia Hill und die Tänzerin Antonija Livingstone. Auch die Choreografin selbst mischt mit.
Der erste von insgesamt vier Versuchen in der Museumsquartier-Halle G - eine vierstündige "extended version" ist für Samstag angekündigt - ist schon einmal grandios gescheitert. Das allerdings sagt nur wenig über die folgenden Abende aus. Denn erstens wird jede weitere Aufführung anders sein, und zweitens ist in der choreografischen Improvisation oft gerade die Qualität des Scheiterns eine Größe für sich.
Das Publikum sitzt auf durch Holzrampen voneinander getrennten Tribünensegmenten rund um die zentrale Bühne. Schon beim Einlass werden die Zuschauerinnen und Zuschauer von schmetternder Musik empfangen. Hill kleidet die Performer laufend neu ein. Halbedelsteine werden ausgelegt. Effektvoll hantiert der Lichtdesigner Mikko Hynninen mit verschiedenen Beleuchtungskörpern. Die Tänzer zeigen Soli und Duette.
Von Beginn an achten alle Beteiligten darauf, dass beim Aufbau ihrer fantastischen Welt weder zu viel auf einmal passiert noch Leerphasen entstehen. Als ersten richtigen Höhepunkt tanzt Stuart selbst ein wildes, mitreißend rissiges Solo, in das ihr ganzer Körper inklusive Mimik einbezogen ist. Sie stürzt sich in einen Haufen aus dicht zusammengedrängten Leibern, die dann wie eine Art Mehrkörperwesen langsam über den Boden kriechen.
Ihr zweites Solo absolviert Stuart als dick in Bettdecken gewickeltes Model, das in tragikomischem Stolz eine Karikatur der Eitelkeit darstellt. Miller projiziert eine Lichtpunkte-Choreografie an die dunklen Wände, und am Ende produziert die gesamte Truppe noch einen Tanz aus Spiegelungen. Diese beiden Interventionen wirken wie eine Hommage an den großen Künstler und Lichtchoreografen Otto Piene, der in der Vorwoche verstorben ist.
Für Langeweile gibt es bei Sketches/Notebook keine Zeit - wie auch schon in der Serie Crash Landing, die 1997 auch bei Impulstanz Station machte. Damals löste dieses Projekt eine Renaissance der Tanzimprovisation aus. Sketches/Notebook allerdings zeigt sich bloß als Rückgriff auf diese großartige Arbeit, die Stuart damals zusammen mit Christine De Smedt und David Hernandez im belgischen Leuven organisierte. Eine der Gegenwart entsprechende Dimension eröffnet Sketches/Notebook in seiner Konzeption und im Potenzial seiner Durchführung nicht.
Wenn also die Pariser Zeitschrift Mouvement behauptet, diese Arbeit führe "den Tanz des neuen Jahrhunderts / des neuen Jahrtausends" ein, darf man sich über diese Begeisterung freuen. Die Diagnose ist trotzdem falsch. Denn der Tanz des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr an einzelnen Werken festzumachen. Hier jedenfalls scheitert Stuart. Vor allem auf dem Level ihres eigenen Frühwerks, das überhaupt zu erreichen vielen ihrer Kollegen nur zu wünschen ist. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 26.7.2014)