Drei Tore innerhalb von 15 Minuten sind heutzutage eine Kleinigkeit für Tayyip Erdogan, den 60-jährigen türkischen Premier und früheren Amateurspieler bei einem Verein im Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa. Die Anhänger des Regierungschefs, der sich nun zum Staatspräsidenten wählen lassen will, jubelten, als er am vergangenen Wochenende bei einer Altherrenpartie zur Eröffnung eines Fußballstadions am Rand von Istanbul wie durch ein Wunder ein ums andere Mal die Abwehr überrannte und den Torhüter zu einer Salzsäule erstarren ließ.
Außenpolitisch stehen die Dinge schlechter. "Es ist eine Kombination von Ignoranz und Ehrgeiz", sagt Bilge Criss, Professorin für Diplomatiegeschichte und Internationale Beziehungen an der Bilkent Universität in Ankara. "Wenn die zwei zusammenkommen, gibt es ein Desaster."
Antiisraelische Ausfälle
Die Türkei wollte den Wandel im Nahen und Mittleren Osten während des Arabischen Frühlings anführen, schreibt Tarik Oguzlu, ein anderer Politikprofessor. Daraus wurde nichts. Die türkischen Entscheidungsträger seien in sich gegangen, glaubt der Politologe; "es gibt Anzeichen für eine Rückkehr von Realismus in der türkischen Außenpolitik". Doch das war vor dem Ausbruch des jüngsten Gazakriegs. Seither schießt Erdogan Tore mit antiisraelischen Ausfällen. "Beleidigend und nicht hilfreich für die Türkei", kommentiert das US-Außenministerium.
"Was wir wissen und lehren, ist: Nationale Interessen leiten die Außenpolitik eines Landes. In der Türkei ist das anders", stellt Bilge Criss fest. Ankara hat in den vergangenen Jahren die Brücken zu seinen Nachbarn abgebrochen. Es gibt derzeit keinen türkischen Botschafter in Israel, Syrien und Ägypten; aus Libyen ist er aus Sicherheitsgründen abgezogen worden. Der türkische Konsul in Mossul, im Nordirak, wiederum ist seit sechs Wochen in der Hand der Extremisten von IS - zusammen mit 47 anderen Türken.
"Keine Energie für Dialog"
Statt eine Inspiration für die Länder der Region zu sein, habe die Türkei versucht zu regieren, erklärt Hasan Selim Özertem, Forschungsdirektor am Thinktank Usak in Ankara. "Sie haben keine Energie für den Dialog aufgewendet", sagt Özertem über die türkischen Entscheidungsträger; "sie haben an Mikroänderungen geglaubt", an die Platzierung politischer Führer hier und da, ohne Konsens und mit recht beschränkten eigenen Möglichkeiten.
Angefangen hat das 2010 im Irak, als der damalige türkische Botschafter in Bagdad glaubte, er habe genug Einfluss auf die politischen Akteure, um die Wiederwahl des schiitischen irakischen Premiers Nuri al-Maliki zu verhindern; Ankara stellte sich auf die Seite von Iyad Allawi, Malikis Rivalen. Türkische Unternehmer bezahlten dafür die Rechnung; viele von ihnen wurden aus Bagdad und Basra hinausgedrängt.
Grenze nach Syrien durchlässig
Beim Machtwechsel in Kairo 2012 und in der syrischen Exilregierung setzte Erdogans konservativ-sunnitisch geprägte Regierung auf die Muslimbruderschaft. Doch das grundlegende Problem in Ägypten sei seit jeher die Wirtschaft und die Lösung nicht einfach die Wahl des Muslimbruders Mohamed Morsi, meint Özertem.
"Die Regierung lebt in der Illusion, dass sie von der sogenannten arabischen Welt willkommen geheißen wird", sagt Bilge Criss. Die Finanziers in den Golfstaaten sehen das anders. Sie begannen, dem Islamischen Staat im Irak und in Syrien (IS) unter die Arme zu greifen. Ankara hat die Extremistengruppe verkannt. Die Grenze nach Syrien blieb durchlässig. "Die Haltung der Türkei hat IS indirekt geholfen", sagt Özertem. Jetzt hat Ankara im Süden nur einen politischen Partner: ironischerweise die Kurden im Irak. (Markus Bernath aus Ankara, DER STANDARD, 29.7.2014)