"Dass Hundertschaften von Polizisten auf der Straße sind, kommt mir fast österreichisch vor. Warum passiert das? Ist das notwendig?" Dokumentarfilmer Gerald Igor Hauzenberger.

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"Wenn ein großes Aufgebot an Polizei erforderlich ist, um einen rechtskonformen Zustand herzustellen, dann ist das nicht nur in Ordnung, sondern auch geboten." Justizminister Wolfgang Brandstetter.

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STANDARD: Wir sind hier im Justizpalast, Schauplatz der Julirevolte 1927. Herr Minister, Sie sagten einmal, die Erzählungen Ihres Vaters über die Unversöhnlichkeit der Lager in der Zwischenkriegszeit hätten Sie geprägt. Inwiefern?

Brandstetter: Ich habe deshalb eine besondere Sensibilität für Gewalt auf der Straße. Diese Gewalt will ich nicht haben – und da sind wir auch schon bei aktuellen Themen.

STANDARD: Worauf spielen Sie an?

Brandstetter: Mir geht es darum, dass wir gewalttätige Aktionen mit rassistischem oder antisemitischem Hintergrund konsequent bekämpfen. Was sich da in letzter Zeit gezeigt hat, ist ein Hasspotenzial, das leicht in nackte Aggression umschlagen kann.

STANDARD: Die Übergriffe beim Fußballspiel in Bischofshofen?

Brandstetter: Auch, aber nicht nur – das war ein besonders dramatischer Vorfall, der zeigt, dass wir besonders aufpassen müssen. Da müssen wir einiges tun.

derstandard.at/von usslar

Hauzenberger: Ich gebe dem Herrn Minister recht: Wenn es von rechter Seite her auf der Straße Kämpfe gibt, wo Gewalt gegen Menschen ausgeübt wird, ist das wirklich das Schrecklichste. Zum Justizpalastbrand: Mich interessiert, wie kam es zu dieser Gewalt? Damals gab es ja ein ungerechtes politisches Urteil nach dem Mord an zwei Schutzbündlern, danach ist Wut entbrannt über dieses Urteil, der Palast wurde angezündet, die Polizei hat einen Schießbefehl erhalten. Ich halte es für sehr gefährlich, wenn die Justiz ihre Probleme nicht bewältigt und die Bürger mit Urteilssprüchen derart aufbringt, dass sie sich gezwungen fühlen, auf der Straße ihr Recht einzufordern.

STANDARD: Sie deuten an, dass ein Schattendorfer Urteil auch heute wieder passieren könnte. Kann es, Herr Minister?

Brandstetter: Man muss schon sehen, was ein Rechtsstaat leisten kann und was nicht. Wir haben unabhängige Richter, die unbeeinflusst von außen zu ihrem Urteil kommen sollen. Und: Wir haben ein Rechtsmittelsystem. Auch der Fall Josef S., der zu viel Kritik geführt hat, ist noch nicht rechtskräftig entschieden. Tatsache ist: Etwas Besseres als die Unabhängigkeit der Gerichte in Verbindung mit einem effizienten Rechtsmittelsystem gibt es nicht. Und noch etwas: Eine wesentliche Grundlage des Rechtsstaates ist das staatliche Gewaltmonopol. Und das meine ich auch, wenn ich sage, ich will keine Gewalt auf der Straße sehen – denn das führt zu Zuständen, die dann umschlagen können in Verhältnisse, die wir nicht haben wollen.

Hauzenberger: Gewalt auf der Straße ist immer ein Symptom einer auseinanderfallenden Gesellschaft. Es soll aber auch nicht so sein, dass Menschen schon eingesperrt werden, bevor sie auf die Straße gehen. Ich habe hier die Haftbestätigung meines Großvaters, er wurde im Austrofaschismus eingesperrt, weil er Obmann der Sozialistischen Jugend war und an einem Anti-Kriegs-Kongress teilgenommen hat. Das erinnert mich schon ein bisschen an die Gegenwart, wo man spürt, dass bestimmte Menschen, die für ethische Ziele auf die Straße gehen, außerhalb des Gesetzes gestellt werden – dass sie auf Basis bestimmter Paragrafen wie dem Mafiaparagrafen aus den Grundrechten herausgenommen werden.

Brandstetter: Gott sei Dank haben die Geschehnisse in der Zwischenkriegszeit mit dem heutigen Rechtsstaat überhaupt nichts zu tun. Sie dürfen nicht vergessen: Wir haben die Europäische Menschenrechtskonvention in Österreich komplett im Verfassungsrang, das ist einzigartig in Europa. Das heißt: Bestimmte Tatbestände wie bei Ihrem Großvater kann es in Österreich gar nicht geben. Zu Demonstrationen: Wegen der Wahrnehmung von Grundrechten wie der Versammlungsfreiheit darf niemand Nachteile haben. Dieses Grundrecht darf aber nicht dazu missbraucht werden, Gewaltakte zu setzen, die einen Hintergrund haben, den ich für besonders gefährlich halte – gerade in Österreich.

Hauzenberger: Da sind wir uns einig – ich möchte nur hinzufügen, dass es in den sozialen Bewegungen immer gewisse gewaltbereite Teile gegeben hat, etwa bei Martin Luther King. Es ist gefährlich, wenn man deswegen die gesamte Demonstration strafbar macht. Es gibt jetzt 500 Anzeigen gegen unbekannt (gegen Demonstranten gegen den Akademikerball, Anm.) wegen Landfriedensbruchs – das wundert mich. So etwas Ähnliches habe ich schon einmal beim Paragrafen 278a bemerkt, wo nicht nur weite Kreise verdächtigt wurden, sondern wo auch umfassende Ermittlungsmethoden angewandt wurden.

Brandstetter: Das verstehe ich. Das ist ein schwieriges rechtsphilosophisches Problem. Es ist aber nicht so, dass man zivilen Ungehorsam an sich strafbar macht. Ziviler Ungehorsam besteht ja darin, dass man ganz bewusst rechtswidrige Akte setzt, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Davon muss man jene Fälle unterscheiden, in denen jemand wirklich ungerechtfertigt Straftatbestände verwirklicht. Wenn das passiert, sind die Sicherheitsbehörden angehalten, das konsequent zu verfolgen – das ist nun einmal so.

STANDARD: Und wo ordnen Sie den Landfriedensbruch ein?

Brandstetter: Die Grundfrage ist: In welcher Form muss ein Aggressionspotenzial nach außen hin erkennbar werden, um zu Sanktionen zu berechtigen? Ich bleibe dabei: Solche Gewaltakte, wie wir sie in Bischofshofen erlebt haben, halte ich wirklich für gefährlich. Da wäre es mir recht, wir hätten besser geeignete rechtliche Instrumentarien als etwa die einfache versuchte Körperverletzung – sie wird diesem gesamtgesellschaftlichen Gefährdungspotenzial nicht wirklich gerecht.

STANDARD: Welche Instrumentarien könnten das sein?

Brandstetter: Da werden wir nachdenken müssen. Und ich will mich zu Einzelfällen nicht äußern, das wäre nicht seriös – aber Tatsache ist, dass auch im Verfahren gegen Josef S. klar geworden ist, dass es bei der Demonstration Gewaltdelikte gab. Die Frage ist nur: Wem kann man sie konkret anlasten?

STANDARD: Wie kann man aber sicherstellen, dass Proteste nicht kriminalisiert werden?

Brandstetter: Ich bin durchaus offen für eine Diskussion, wie man das Delikt des Landfriedensbruchs sinnvoller, straffer, treffsicherer gestalten kann. Aber den Diskussionen im Rahmen der Strafrechtsreform möchte ich nicht vorgreifen. Dass ein Gefährdungspotenzial von solchen Zusammenrottungen ausgeht, wo man gegensteuern muss, davon bin ich aber überzeugt. An eine ersatzlose Streichung denke ich nicht.

STANDARD: Herr Hauzenberger, Sie sagen, dass es bei vielen Protestbewegungen auch radikale, gewaltbereite Flügel gibt. Sollte man sie tolerieren?

Hauzenberger: Grundsätzlich nicht – aber ich glaube nicht, dass man dafür Gesetze wie Landfriedensbruch oder den Mafiaparagrafen braucht. Das Problem bei diesen Paragrafen ist, dass nicht die Straftat, sondern schon die Absicht bestraft wird. Einzelne Menschen stehen nur wegen des "Dabeiseins" vor Gericht – die Tierschützer zum Beispiel. Einer von ihnen, der Künstler Chris Moser, wurde nur deshalb angeklagt, weil er in seiner Kunst angeblich aggressive Flugzettel und Gedichte geschrieben hat – sonst wurde ihm nichts angelastet. Er wurde vor seinen drei Kindern in Fesseln abgeführt und musste über ein Jahr lang von Tirol nach Wiener Neustadt zu diesem Prozess fahren. Trotz Freispruchs bekommt er als Kostenersatz für die extrem lange Prozesszeit nicht mehr als 3.000 Euro. Das reicht wahrscheinlich gerade einmal für die Zugtickets.

Brandstetter: Zum Ersatz der Verteidigungskosten, den Sie ansprechen: Ja, wir haben ihn verdoppelt, natürlich ist es immer noch zu wenig, aber mehr war budgetär nicht möglich – nehmen Sie es als Signal des guten Willens. Zum Mafiaparagrafen: Es ist eine jahrzehntelange Diskussion, wie weit man bei diesen Delikten gehen darf, die ein Verhalten bestrafen, das sich noch nicht in schweren Straftaten manifestiert hat. Ich bin da naturgemäß immer an der Grenze zum Gesinnungsstrafrecht. Darum die Frage: In welcher Form muss sich ein Aggressionspotenzial nach außen erkennbar entladen, damit ich rechtsstaatlich mit gutem Gewissen etwas unternehmen darf? Diese Balance muss jede Generation für sich finden. Zu Martin Luther King: Sie wissen, dass er ein Apostel der Gewaltlosigkeit war.

Hauzenberger: Absolut. Ich glaube auch nicht, dass Gewalt eine Gesellschaft positiv verändert, der zivile Ungehorsam hat größere Qualitäten. Gewalt ist eher als Aufschrei zu sehen, führt aber letztlich nicht zu einer wirklichen Systemveränderung.

STANDARD: Woher kommt denn eigentlich die Systemveränderung im Rechtsstaat? Müssen erst Regierungsmitglieder von Verhetzung betroffen sein, damit sich die Politik Gedanken darüber macht, ob der Verhetzungsparagraf so passt, wie er ist?

Brandstetter: Durch die Hasspostings hat sich das nur verstärkt – wir hatten aber schon vor einigen Wochen Gespräche darüber, konkret die Innenministerin, der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde und ich. Und wenn man davon ausgeht, dass sich das Recht nicht zu weit von der Gesellschaft entfernen darf, muss man auf aktuelle Vorkommnisse auch legistisch reagieren. Ich sehe darin nichts Schlechtes.

STANDARD: Schafft das Recht es aber auch, aus sich selbst heraus reformfähig zu bleiben?

Brandstetter: Wir brauchen beides. Und ein gutes Beispiel, dass es nicht nur Anlassgesetzgebung gibt, ist ja die aktuelle Reformgruppe zum Strafgesetzbuch. Der Anlass war nur das 40-jährige Jubiläum des Strafgesetzbuches von 1975. Und noch etwas zum zivilen Ungehorsam: Da ist es extrem schwierig, die Grenze zu ziehen. Natürlich hat der zivile Ungehorsam seine Berechtigung – er darf aber nie so weit gehen, dass er den Rechtsstaat aushöhlt.

Hauzenberger: Diese Grenzen werden aber unterschiedlich interpretiert. Mir ist wichtig, dass man eine Zivilgesellschaft nicht verängstigt – dass Menschen sagen: Lieber Sohn, liebe Tochter, geh nicht auf die Straße, denn es könnte dir passieren, wenn andere Leute Gewalttaten begehen, dass du auch angeklagt wirst. Eine starke Zivilgesellschaft kann gegen autoritäre Systeme besseren Widerstand leisten.

Brandstetter: Da sind wir einer Meinung. Aber es kann nicht sein, dass gewaltbereite Gruppen das Demonstrationsrecht missbrauchen. Natürlich besteht die Gefahr, dass jemand, der wirklich nur sein Anliegen im Kopf hat, hineingerät in eine Demonstration, wo es zu Gewalttaten kommt. Wir werden uns überlegen, ob man den Tatbestand des Landfriedensbruchs so straffen kann, dass diese Gefahr reduziert wird. Aber als Vater von Kindern, die schon längst aus dem Haus sind, muss ich Ihnen sagen: Wenn ich das Gefühl gehabt hätte, eines meiner Kinder würde bewusst zu einer Demonstration gehen, bei der Gewalttaten zu erwarten sind, dann hätte ich schon versucht, das zu verhindern.

STANDARD: Konkret: Hätten Sie am 24. Jänner davon abgeraten?

Brandstetter: Ich kann mich nicht in die Situation des 24. Jänner zurückversetzen. Aber wenn ich das Gefühl gehabt hätte, dass da mit hoher Sicherheit Gewalt zu erwarten ist, hätte ich meinen Kindern davon abgeraten.

Hauzenberger: Dann hätten Sie ihnen aber auch fast verbieten müssen, dass sie sich in einer NGO engagieren – hätten sie beispielsweise eine Legebatterie besetzt, wären sie vielleicht Teil einer kriminellen Organisation geworden. Das ließ der Tatbestand zumindest früher zu.

Brandstetter: Das ist jetzt aber nicht mehr so, oder?

Hauzenberger: Stimmt – aber wie wir wissen, war es nicht leicht, ihn zu verändern.

STANDARD: Anderes Thema: Wann haben Sie beide schon einmal gegen Gesetze verstoßen?

Hauzenberger: Wenn ich an meine Jugend zurückdenke, finde ich sehr viele. Ich komme wie Sie vom Land, und da war es noch verboten, unter 18 nach Mitternacht auf der Straße zu sein. Ich kann mich erinnern, dass ich, wenn ich mit dem Rad oder der Vespa unterwegs war, von Polizisten aufgehalten wurde, da wurden mir 100 Schilling abgenommen. Was für mich sehr viel Geld war. Das hat nur dazu geführt, dass wir später halt durch den Wald gefahren sind.

Brandstetter: Wenn wir generös von allen Verwaltungsstrafen absehen ... Na gut, ich bin natürlich auch mit 14 Jahren schon Auto gefahren. Das war aber am Land relativ ungefährlich und hatte eine gewisse Faszination. Und es ist längst verjährt!

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STANDARD: Apropos Land: Da kennt man einander, kennt auch die Polizisten – schlägt die Faust des Gesetzes da weniger hart zu als in der Stadt?

Brandstetter: Ich glaube, das Phänomen, das Sie ansprechen, hat Vor- und Nachteile. Die klassischen "Landgendarmen" waren durchaus in der Lage, auch ein bisschen "Sozialingenieur" zu spielen. Zum Problem wird es dann, wenn Delikte nicht verfolgt werden. Es ist kein Zufall, dass bei Planquadrat-Aktionen jetzt vor allem Beamte eingesetzt werden, die nicht vor Ort verankert sind. Aber ich möchte das Land nicht missen – ich lebe ja auch jetzt am Wochenende dort. Sie sind ja Filmemacher – das Land bietet da schon mehr Stoff, finden Sie nicht?

Hauzenberger: Naturfilme? Mich interessieren politische Prozesse mehr. Ich bin auch mit meinem aktuellen Film nach Brüssel gezogen, was sehr spannend war – da haben sich Flüchtlinge zusammengeschlossen und dagegen demonstriert, dass Grundrechte nicht mehr eingehalten werden. Da waren tausende Leute auf der Straße und rund 50 bis 100 Polizisten. Dass Hundertschaften von Polizisten auf der Straße sind, kommt mir fast österreichisch vor. Warum passiert das? Ist das notwendig? Der französische Philosoph Jean Baudrillard sagt, dass eine Heerschar von Polizisten und Kameras Gewalt sogar erst hervorrufen kann.

Brandstetter: Der Rechtsstaat muss sich auch durchsetzen. Wenn ein großes Aufgebot an Polizei erforderlich ist, um einen rechtskonformen Zustand herzustellen, dann ist das nicht nur in Ordnung, sondern auch geboten. Das Strafgesetzbuch ist kein Wunschkonzert, es gilt nun einmal – unterschiedslos und für alle von ihm erfassten Delikte. Was natürlich immer legitim ist, ist die Kritik an bestimmten Gesetzen – aber das ist eine rechtspolitische Diskussion. Eine Diskussion, die vielleicht auch dazu führt, dass sich die Rechtslage ändert – warum denn nicht. Mir ist wichtig, dass Gewalt den Rechtsstaat nicht unterminiert, denn das geht immer auch auf Kosten der Schwächsten. Der Rechtsstaat schützt die Schwachen, daraus schöpft er seine Legitimation. Marie von Ebner-Eschenbach hat gesagt: Das Recht des Stärkeren ist das stärkste Unrecht. Und das stimmt.

STANDARD: Apropos: Was sind in Österreich die stärksten Einflussgruppen bei der Gesetzgebung?

Brandstetter: Im strafrechtlichen Bereich sind wir gebunden an die Menschenrechtskonvention, da könnten noch so viele Gruppen auftreten, es gibt keinen Weg, da irgendetwas zu relativieren. Das Agieren einzelner "Pressure Groups" funktioniert in Österreich aber schon so, dass es einigermaßen transparent ist.

Hauzenberger: Ganz drumherumreden können wir aber nicht, dass sich bestimmte Elitegruppen häufiger durchsetzen. Es wurde auch gemunkelt, der Bauernbund habe sich lange dagegen gesperrt, den Mafiaparagrafen zu entschärfen.

Brandstetter: Für mich ist das eine ungewohnte Vorstellung. Meine Gesprächspartner sind die Justizsprecher aller Parteien – mit ihnen stehe ich in Kontakt. Dass es natürlich innerhalb der Parteien Diskussionen gibt und Gruppen, die sich abstimmen, das wird schon so sein, keine Frage.

Hauzenberger: Einzelne Gruppen sollten auf die Justiz keinen großen Einfluss haben. Sonst landen wir dort, wo die Justitia nicht mehr ausgewogen urteilt. Apropos, können Sie mir erklären, warum der Statue der Justitia im Justizpalast die Waage und die Augenbinde fehlen? Ist das nicht symptomatisch?

Brandstetter: Sie haben recht, das ist bemerkenswert. Diese Statue hat eine andere Darstellung als üblich – es fehlt die Waage. Die Frage ist aber, ob sie wirklich fehlt, denn diese Justitia hat in der einen Hand das Schwert und in der anderen das Gesetzbuch. Das war der Gedanke: Das Gesetz regelt alles so genau, dass ich das Austarieren mit der Waage gar nicht mehr brauche. Ob dieser Gedanke berechtigt ist oder nicht, lasse ich dahingestellt.

Hauzenberger: Ich habe bei dem Buch in ihrer Hand eher an Kafka gedacht. Es ist ja nicht ganz leicht, in dieses Gebäude zu kommen. Wenn man dann die Stiegen zur Justitia hinaufgeht, wirkt sie fast wie eine Türsteherin, das Buch könnte also auch eine Gästeliste sein. Wie heißt es bei Kafka? Vor dem Gesetz steht der Torwächter, der keinen Eintritt gewährt.

Brandstetter: Diese Form der Statue hat historische Gründe – und heute sieht ja auch ein Verhandlungssaal ganz anders aus als früher. Ich kenne und schätze Kafka, ich kenne und schätze aber auch unseren Rechtsstaat, und da gibt es einen entscheidenden Unterschied. Außerdem: Das mit der Gästeliste kann nicht richtig sein. Wissen Sie, warum? Dafür ist das Buch in der Hand der Justitia ja viel zu dick. Das ist der Kodex, für alle gültig und gleichermaßen verbindlich – wie's g'hört. (Maria Sterkl, DER STANDARD, 2.8.2014)