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Er sah sofort die Chancen und Möglichkeiten, die das Neue ihm bot, zum Beispiel am 5. Oktober 1940: Lion Feuchtwanger beantwortet nach seiner Ankunft in New York Fragen von Journalisten.

Foto: AP/Harry Harris

STANDARD: Herr Heusler, obwohl Lion Feuchtwangers Werk aus Biografien besteht, wollte er über sich selbst keine schreiben. Hat er sein Leben bereits in seinen Romanen verarbeitet?

Heusler: Nur in Fragmenten spiegelt sich seine Lebensgeschichte in seinem Werk. Es gibt bei ihm zwar Protagonisten, die große Ähnlichkeit mit ihm haben, wie etwa Gustav Oppermann oder Jacques Tüverlin. Aber seine Erfahrungswelten hat er damit nicht aufgearbeitet. Der Grund, warum er nicht autobiografisch geschrieben hat, liegt in seiner Bescheidenheit. Gewiss war es ihm wichtig, als Schriftsteller und Schöpfer all der spannenden Romane wahrgenommen zu werden. Aber er war ein beeindruckend uneitler, zurückhaltender Mensch, der nicht unbedingt im Rampenlicht stehen musste.

STANDARD: Berühmt wurde Lion Feuchtwanger mit dem historischen Roman "Jud Süß" über Josef Süß Oppenheimer, den Finanzberater des Prinzen Karl Alexander von Württemberg. Wie betrachten Sie diesen Roman mit all seiner unglückseligen Geschichte aus heutiger Perspektive?

Heusler: Zunächst einmal ist er eine Standortbestimmung des Judentums in der deutschen Geschichte. Er ist ein Roman über Antisemitismus und verweigerte Integration, aber auch über Selbstfindung. Auf der Suche nach seinem Standort, seinem Milieu in der Gesellschaft erkennt der Protagonist, dass er jüdisch ist und sich zu diesem Judentum bekennen sollte. Damit trägt er auch starke Züge Lion Feuchtwangers, für den der Antisemitismus ein durchlaufendes Kontinuum war, das er selbst erlebt und erlitten hat. Für seine Gegenwart, die Mitte der Zwanzigerjahre, war Jud Süß ein hochaktuelles Buch.

STANDARD: Welche Haltung nahm Feuchtwanger gegenüber dem Judentum ein?

Heusler: Er war nicht im geringstem Maße religiös. Den Glauben an die Religion der Väter hat ihm die Orthodoxie ausgetrieben. Die Enge des orthodoxen Judentums fand er unerträglich, und er versuchte schon als Jugendlicher, sich ihr zu entziehen. Vom Judentum als Träger kultureller Erfahrungen hat er sich dagegen nie getrennt. Es war ihm ein identitätsstiftendes Merkmal, Jude zu sein, und er bekannte sich dazu vorbehaltlos.

STANDARD: Aufgewachsen ist Feuchtwanger in München. Doch fand er wenig Gutes über die Stadt zu sagen ...

Heusler: Seine Beziehung zu München war geprägt von permanenten Enttäuschungen. Als junger ambitionierter Schriftsteller wollte er sich in der literarischen Szene etablieren. Doch von den Arrivierten wurde er immer wieder zurückgestoßen. Zum anderen störte er sich an dem selbstgerechten und selbstgefällig in sich ruhenden München, das sich nicht bewegte. In seinem Roman Erfolg beschrieb er prägnant, wie dieses Bierkelleridyll, dieses Folklore-und-Loden-München die Keimzelle des Nationalsozialismus in sich trug.

STANDARD: Der Roman bildet den ersten Teil der Trilogie "Wartesaal". Vermittelt er ein authentisches Bild des damaligen Zeitgeschehens?

Heusler: Das München-Bild, das Feuchtwanger in dem Roman zeichnet, ist natürlich sehr zugespitzt. Es tauchen darin Karikaturen auf und Charaktere, die übertrieben dargestellt oder parodiert werden. Auch ist alles sehr pointiert formuliert. Die Atmosphäre aber, dieses spezielle Milieu "München", das den Nährboden bildet für die unselige Hitler-Bewegung, wird sehr anschaulich und überzeugend geschildert.

STANDARD: Sie berichten von dem bizarren Zusammentreffen zwischen Feuchtwanger und Hitler in München. Hat Feuchtwanger dieses Erlebnis literarisch verarbeitet?

Heusler: Nein, er hat diese Zusammenkunft im Hofgarten selbst nie dargestellt. Möglicherweise hatte er dieses Erlebnis auch ganz anders in Erinnerung oder sogar vergessen. Wir wissen nicht, ob Brecht, der später ausführlich davon erzählte, tatsächlich ein zuverlässiger Zeuge in dieser Sache ist. Es gibt daran in der Literaturwissenschaft durchaus Zweifel. Auch Historiker sprechen Brecht die authentische Zeugenschaft dieses Zusammentreffens ab.

STANDARD: Von wenigen Ausnahmen abgesehen schrieb Feuchtwanger hauptsächlich historische Romane. Welches Verständnis von Geschichte hatte er?

Heusler: Er war kein Historiker. Es ging ihm nicht darum, Geschichte darzustellen, sondern die Gegenwart zu erklären und bedenkliche Veränderungen zu analysieren und zu kommentieren. Dazu bediente er sich des historischen Romans. Er verpackte seine Gegenwartskommentare in literarische Sujets und erreichte damit ein weitaus breiteres Publikum, als ihm das als Kolumnist gelungen wäre.

STANDARD: An der Kriegsbegeisterung 1914, der viele andere Intellektuelle und Schriftsteller verfielen, beteiligte sich Feuchtwanger nicht. Zeugte das von politischer Weitsicht?

Heusler: Feuchtwanger war Pazifist. Und da er Sympathien für die Linke hatte, später auch für den Kommunismus bolschewistischer Prägung, war er erschüttert von der Tatsache, dass die Arbeiter links und rechts des Rheins einander plötzlich das Leben nahmen.

STANDARD: 1933 äußerte Feuchtwanger nach einer Vortragstournee durch die USA gegenüber amerikanischen Journalisten, er rechne in Deutschland nicht mit Repressalien. Wie erklären Sie sich diese Fehleinschätzung?

Heusler: Es war eher das Unvermögen zu erkennen, welches brutale, hemmungslose Gewaltpotenzial der Nationalsozialismus entfalten wird. Erst die Nachrichten aus Deutschland, die ihn noch in New York und dann auf der Rückreise im März 1933 erreichten, ließen ihn zu anderen Einschätzungen kommen. Da spürte er, dass etwas im Entstehen war, das alle Grenzen überschreitet und die Kulturnation Deutschland in den Abgrund führen wird. Und da fiel auch seine Entscheidung, nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren, sondern ins Exil nach Österreich, anschließend in die Schweiz und dann nach Südfrankreich zu gehen.

STANDARD: Mit dem Reisebericht "Moskau 1937", der Arnold Zweig "sauer" einging, sorgte Lion Feuchtwanger für Irritation. Was bewog ihn, dieses Buch zu schreiben?

Heusler: Er war ein sehr politisch denkender Schriftsteller. Wenn man seine Romane liest, stellt man fest, dass sie viele politische Standortbestimmungen und Botschaften enthalten. Ob er nun in jeder Phase seines Lebens ein politisch kluger Mann war, kann man in Anbetracht dieser Eloge auf Stalin durchaus infrage stellen. Insofern ist die Kritik an den Reiseberichten Moskau 1937 sicher gerechtfertigt, auch am Verfasser, der sich nie davon distanziert hat. Aber es ist auch erklärbar, warum er dieses Buch geschrieben hat. Blendung war das eine Motiv. Hinzu kam die Hoffnung. Feuchtwanger sah, dass die Westmächte versagten im Kampf gegen den Nationalsozialismus, und dass keiner dem maßlosen Aggressor, der in Berlin herrschte, die Stirn zu bieten vermochte, außer der Diktator in Moskau. So richtete er seine Hoffnung darauf.

STANDARD: Sehen Sie auch die Vorwürfe gegenüber dem Roman "Waffen für Amerika" als berechtigt an, der wiederum in der Sowjetunion als Propagandaroman für das imperialistische Amerika kritisiert wurde?

Heusler: Nein, das ist eine völlig falsche Interpretation. Der Roman huldigt nicht dem Imperialismus. Er ist vielmehr Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber den USA, die den Verfemten in der Heimat die Tür öffneten und Schutz boten.

STANDARD: Mehrfach in seinem Leben musste Feuchtwanger neu beginnen, und er hat sich jedes Mal erstaunlich schnell eingerichtet, sei es in Berlin, wo er 1925 freiwillig hinzog, oder im Exil in Sanary-sur-Mer und in Pacific Palisades ...

Heusler: Das ist ein unglaubliches Phänomen. Feuchtwanger vermochte, kaum dass er die Brücken hinter sich abgebrochen hatte, sich in eine neue Situation einzufinden. Was ihn umgab, akzeptierte er, und er sah sofort die Chancen und Möglichkeiten, die das Neue ihm bot. Er war furchtlos und hatte keine Angst vor der Zukunft. Im Gegenteil, er suchte geradezu diese "Momente des Abenteuers", weil sie ihm Impulse und Inspiration schenkten.

STANDARD: Bis zu seinem Tod 1958 blieb Feuchtwanger in den USA, obwohl er sich oft heftig nach Europa sehnte. Was hielt ihn von einer Rückkehr ab? Hatte er Vorbehalte gegenüber Europa?

Heusler: Nein, das würde nicht zu ihm passen. Nachtragend war er nicht. Er war ganz stark im Hier und Jetzt verhaftet und hat die Gegenwart gelebt. Und die Gegenwart in Pacific Palisades mit seiner Bibliothek und einer Reihe von intellektuell inspirierenden Gesprächspartnern war für ihn eine so behagliche, ihm gemäße, dass er sie nur um einer besseren willen hätte aufgeben können. Und die war weder in West- noch in Ostdeutschland zu finden.

STANDARD: Wie stand es um die Rezeption von Feuchtwangers Werk nach 1945?

Heusler: Die fand in Westdeutschland eigentlich nicht statt. In Ostdeutschland war Feuchtwanger ein anerkannter, populärer und beliebter Autor. Seine Romane wurden dort in hohen Auflagen gedruckt und breit rezipiert. Dabei spielten natürlich das Moskauer Buch und seine Sympathie für den Sozialismus eine Rolle, aber auch seine Freundschaften zu Brecht, Heinrich Mann, Johannes R. Becher und anderen DDR-Literaten.

STANDARD: Und wie steht Feuchtwangers Werk heute da? Wird es nach wie vor gespielt und gelesen?

Heusler: Gespielt wird es nicht mehr. Seine Dramen sind aus der deutschen Theaterlandschaft verschwunden. Seine Romane aber werden nach wie vor gerne gelesen und sind bis auf wenige Ausnahmen im Buchhandel greifbar. (Ruth Renée Reif, Album, DER STANDARD, 2./3.8.2014)