So nah und doch so fern: Auf dem Monte Gurugú in Marokko warten junge Afrikaner auf ihre Möglichkeit zur Flucht nach Melilla.

Foto: Haselhorst

Dort liegt sie, die verheißene Stadt, quasi einen Steinwurf entfernt. Seit eineinhalb Jahren versuchen Joshua und Cletus, dorthin zu gelangen. Nach Melilla, nach Europa. Über diesen verflixten Zaun, an dem sie schon so oft Prügel und Pfefferspray der spanischen Grenzpolizei erfahren haben. Und mit brennenden Augen und schmerzenden Gliedmaßen wieder in ihr Versteck auf dem Berg zurückhumpelten.

Auf dem Markt im marokkanischen Städtchen Nador schleichen zwischen Kalbsköpfen und Melonen zwei dunkelhäutige Afrikaner herum. Sie halten die Hand für ein paar Dirham auf. Joshua und Cletus, der eine aus Ghana, der andere aus Nigeria, bewegen sich in der Stadt mit größter Vorsicht. "Wenn die Polizei uns sieht, müssen wir rennen."

Selbst hoch oben auf dem erloschenen Vulkan Gurugú seien sie nicht sicher. Wer sich erwischen lässt, werde von der Polizei verprügelt. Die Männer beteuern, dass es dabei schon Tote gegeben hat. Gesichert ist das nicht. Aber die Vorstellung ist so haarsträubend wie die immer wiederkehrende Geschichte von Flüchtlingen, die die Polizei ohne Wasser in der Wüste aussetzt.

Ausstieg in der Wüste

Nach einigen Kilometern mit dem Bus gen Melilla lassen sich Joshua und Cletus in der Einöde aussetzen und schlagen sich in die Büsche. "Dieser Weg ist anstrengend, aber hier läuft weniger Polizei herum", sagt Cletus. "Dort oben müssen wir hin, das ist der Gurugú." Er zeigt auf den Gipfel des Hügels in etwa einem Kilometer Entfernung.

Ein Mann aus Kamerun kreuzt kurz vorm Gipfel den Weg. Er ist überhaupt nicht erfreut darüber, dass Joshua und Cletus einen unbekannten Weißen im Schlepptau haben. Später erzählt Joshua, dass sich vor einigen Wochen ein Spanier als Journalist ausgegeben hat - ein Spitzel der Guardia Civil.

Als Ghanaer und Nigerianer gehören Cletus und Joshua zu einer Minderheit im vornehmlich französischsprachigen Camp. Beide müssen beim Clanchef von Kamerun vorsprechen. Die Kameruner sind mit den Männern aus Mali die größte Gruppe, daher ist ihr Clanchef auch der Boss des etwa 2000 Männer zählenden Lagers.

Visionen von Europa

"Das hier ist das Mali-Ghetto, dahinten das Kamerun-Ghetto", erklärt der Ivorer Abou auf dem anschließenden Gang durchs Lager. Eine Mischung aus Rauch und Schweiß liegt in der Luft, hier und da riecht es auch nach Urin. Die Stimmung ist gedrückt. An den Bäumen hängen Decken und Kleidung, der harte und staubige Boden ist bedeckt mit Steinen und selbstgebauten Zelten. Über ein paar Kiefernäste wird eine blaue Plane als Laube gespannt. "Hier wohne ich", sagt Joshua.

Cletus träumt von einer Karriere als Fußballer in Europa. Sein Freund Joshua ist bodenständiger: "Geld verdienen, irgendwo in Europa", sagt er. Die Antwort ist der Klassiker. Aber dafür müsste man erst mal nach Melilla kommen. Und der Zaun scheint eine verdammt hohe Hürde zu sein. Viele haben schon zehn oder zwölf Versuche hinter sich.

Abou nimmt sein Handy in die Hand, es klingelt. Ein Mobiltelefon haben sie hier fast alle. Man muss ja in Kontakt bleiben. Vor allem mit den Landsleuten, die den Sprung über den Zaun schon geschafft haben. Zurzeit sind Massenanstürme ein beliebtes Mittel. "Time to say goodbye", sagt Abou mit seinem Handy am Ohr. "Der Chef sagt, das reicht jetzt."

Guru was? Nie gehört

Eine Stunde später am Grenzübergang Beni Enzar. "Afrikanische Namen!", stellt der Zöllner beim Blick in den Notizblock fest. "Auf dem Gurugú gewesen?" Journalisten sind auch hier nicht sonderlich beliebt. Guru was? Nie gehört, nie da gewesen. Der Mann lächelt. Etwas gequält zwar, aber immerhin. So ganz scheint er's nicht zu glauben. Aber dann sagt er "herzlich willkommen in Melilla". So einfach kann's gehen. Zumindest für die einen.

Wem der Sprung über den Zaun gelungen ist, der steht in Melilla schnell vor neuen Problemen. Zwei lange Jahre hat Guillaume auf dem Monte Gurugú gelebt. Dann, vor knapp vier Monaten, schlug seine Stunde: Zusammen mit vielen weiteren Flüchtlingen gelang dem Kameruner der Sprung über den Grenzzaun. Jetzt steht der 31-Jährige in der Innenstadt von Melilla und wäscht für kleines Geld Autos.

Plötzlich versorgt

Schlafen und essen kann er im Ceti, dem Zentrum für den vorübergehenden Aufenthalt von Migranten. Alle, die es über den Zaun geschafft haben, laufen umgehend hierher - über die Hauptstraße kaum 200 Meter. "Wenn wir auf dem Zaun sitzen, misshandelt uns die Polizei, aber sobald wir einen Fuß auf spanischem Boden haben, lässt sie uns in Ruhe und das Rote Kreuz versorgt unsere Verletzungen", schildert Guillaume die bizarre Situation.

Fünf Männer aus Ghana und Kamerun, die im Schatten eines Baumes sitzen, haben diese Erfahrung bereits hinter sich. "Wir waschen keine Autos mehr", sagen sie. In ihren Gesichtern ist erste Enttäuschung abzulesen. Seit acht Monaten schlafen sie auf ihren Feldbetten.

"In Madrid kann man Geld verdienen", glaubt einer von ihnen. "Und wenn nicht, gehen wir nach Frankreich, Deutschland oder Skandinavien - irgendwann und irgendwo wird es schon klappen mit dem besseren Leben. Erst mal raus aus Melilla." (Meiko Haselhorst aus Beni Enzar, DER STANDARD, 5.8.2014)