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Rund 200.000 Menschen sollen nach dem jüngsten Vormarsch der Miliz "Islamischer Staat" (IS) im Nordirak auf der Flucht sein. Vor allem Angehörige der christlichen und jesidischen Minderheit flüchteten in die vorerst sichere, kurdisch kontrollierte Stadt Erbil.

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Kämpfer des "Islamischen Staates" (IS) drohen religiösen Minderheiten mit dem Tod.

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Schon die irakischen Christen, die zuletzt von der Katastrophe ihrer Stigmatisierung, Verfolgung und Vertreibung aus Mossul, einer der ältesten christlichen Städte der Welt, betroffen waren, finden wenig Gehör. Zur Ehrenrettung der Iraker sei gesagt, dass es in Bagdad zu Demonstrationen kam, bei denen sich auch Muslime das N - vom arabischen Wort für Christ - an die Brust hefteten, mit dem die neuen Behörden des "Islamischen Staats" (IS) die Häuser der Christen kennzeichneten.

Aber noch viel gefährdeter als die Christen sind die anderen religiösen Minderheiten, vor allem jene, die bei der IS unterhalb der Schwelle dessen liegt, was sie als Religion bezeichnen. Gerade im Grenzgebiet zwischen dem arabischen und kurdischen Teil des Irak haben viele religiöse Gemeinschaften überlebt, die sonst kaum - oder nur mehr im Exil - zu finden sind: die Jesiden und die noch unbekanntere Gruppe der Schabak. Sie fliehen vor der IS, denn sie müssen fürchten, sofort umgebracht zu werden.

Systematische Zerstörung

Auch die Schiiten sind betroffen, die von den sunnitischen Extremisten nicht nur als Häretiker betrachtet werden, sondern mit denen die IS eine historische Rechnung begleichen will: Ein Sprecher kündigte ja im Juni an, dass es in Najaf und Kerbala - den den Schiiten heiligen Städten - zur finalen Konfrontation kommen werde, im Streit über die Herrschaftsform im Islam, der nach dem Tod des Propheten Muhammad begonnen hat. Das ist zwar nicht ernst zu nehmen, das schafft auch die IS nicht. Aber in den von ihr kontrollierten Gebieten zerstört sie systematisch alles, was mit der Schia in Zusammenhang steht. Es gibt übrigens nicht nur arabische Schiiten im Irak, sondern auch kurdische, die Faili-Kurden, und turkmenische, deren Stammgebiete von der IS-Offensive besonders betroffen sind.

Die irakische Armee wird von irakischen schiitischen Milizen verstärkt, die unter den Sunniten einen extrem schlechten Ruf haben. Es kämpfen aber nicht nur irakische Schiiten. Iranische Gruppen und die libanesische Hisbollah sind da, und wenn Najaf und Kerbala bedroht wären, würden wohl Gruppen aus aller Welt kommen.

Die Schabak und die Jesiden werden beide meist als "kurdisch" eingeordnet, und manche Angehörige dieser Minderheiten fühlen sich auch davon vereinnahmt, weil sie sich als separate ethnoreligiöse Gruppen fühlen. Die Mehrzahl der irakischen Jesiden spricht jedoch die kurdische Sprache Kurmanji. Die beiden synkretistischen Religionen haben, wahrscheinlich durch ihr Zusammenleben in einem relativ engen geografischen Raum, Gemeinsamkeiten entwickelt, aber es handelt sich um zwei gesonderte Glaubensgemeinschaften.

Eine eigenständige Religion

Im von der IS am Wochenende eroberten Gebiet um Sinjar leben besonders viele Jesiden. Laut Stephan Procházka von der Universität Wien ist es wichtig, das Jesidentum - oft als "Teufelsanbeter" völlig falsch bezeichnet - als eigenständige monotheistische Religion zu begreifen, nicht etwa als islamische Häresie. Der Name wird meist auf den omayyadischen Kalifen Yazid bin Muawiya (7. Jahrhundert) zurückgeführt. Der eigentliche Glaube dürfte sich ab zirka 1200 entwickelt haben.

Er vereint Spuren etlicher Religionen (deshalb synkretistisch), wie etwa die Rolle von Feuer, Wasser und Sonne aus dem Zoroastrismus, die Seelenwanderung aus der Gnosis sowie Elemente des Judentums, Christentums und Islams. Es gibt jedoch auch völlig eigenständige Vorstellungen wie etwa die Schöpfungsmythen, mit ihrer "Art Proto-Universum" (Procházka) als eine von Gott zuerst geschaffene weiße Perle. Am bekanntesten ist vielleicht der "Engel Pfau" (Melek-e Tawus) als Führer der Engel und Schutzpatron der Jesiden. Diesen Schutz brauchen sie jetzt dringender als je, aber er wird nicht ausreichen. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 5.8.2014)