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Schon kurz vor Inkrafttreten der 72-stündigen Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas hat die israelische Armee den Rückzug ihrer Bodentruppen aus dem Gazastreifen abgeschlossen.

Foto: EPA / O. Weiken

Mit der Ankündigung einer dreitägigen Waffenruhe und dem Rückzug der israelischen Bodentruppen wuchs im Nahen Osten am Dienstag eine leise Hoffnung auf ein Ende des vierwöchigen Konflikts zwischen Israel und der radikalislamischen Hamas im Gazastreifen. Die Bilanz der bisherigen Kampfhandlungen: Auf palästinensischer Seite wurden rund 1.800 Menschen getötet und etwa 10.000 verletzt, die meisten davon Zivilisten; auf israelischer Seite starben 64 Soldaten und drei Zivilisten (siehe Grafik). Das sind offizielle Angaben der beiden Konfliktparteien.

In der Bewertung dieses Konflikts haben nicht nur Menschenrechtsorganisationen beiden Seiten Verstöße gegen das Völkerrecht und mögliche Kriegsverbrechen vorgeworfen. Auch hochrangige UN-Diplomaten bis hin zu Generalsekretär Ban Ki-moon und Menschenrechtshochkommissarin Navi Pillay haben sich in diese Richtung geäußert − vor allem nach dem Beschuss dreier UN-geführter Schulen durch Israel.

Die Aussage Bans, diese Angriffe verletzten das humanitäre Völkerrecht, hält Wolff Heintschel von Heinegg von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder jedoch "zumindest für verfrüht". Zwar sei es richtig, dass UN-Einrichtungen besonderen Schutz genießen, auch in Kriegssituationen, "aber auch solche Einrichtungen verlieren diesen Schutz, wenn sie von einer Konfliktpartei für militärische Zwecke genutzt werden." Mit anderen Worten: Wenn die Hamas in einer UN-Schule Waffen lagert oder in einem Krankenhaus Kämpfer versteckt, wird der Ort zu einem "zulässigen militärischen Ziel".

Das heißt aber nicht, dass der Gegner − in diesem Fall Israel − uneingeschränkt angreifen darf. Vorher muss in jedem einzelnen Falle abgewogen werden: Inwieweit würden Zivilisten oder zivile Gebäude in Mitleidenschaft gezogen? Rechtfertigt dies den militärischen Vorteil der Aktion? Das ist schwierig zu beurteilen.

Der Angriff darf nicht erfolgen, "wenn der zu erwartende Kollateralschaden in einem krassen Missverhältnis zum militärischen Vorteil steht − wohlgemerkt: in einem krassen Missverhältnis", erklärt Heintschel von Heinegg. Auch müssen die Kriegsparteien weitere Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um zivile Opfer zu vermeiden − etwa indem die Bevölkerung vor dem Angriff gewarnt wird. Nur wenn diese Kriterien außer Acht gelassen werden, liegt laut dem Experten ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht vor.

Entsetzte Öffentlichkeit

Entsetzt hat die internationale Öffentlichkeit auf die vielen zivilen Opfer auf palästinensischer Seite reagiert − ein Kriterium, das bei der völkerrechtlichen Bewertung durchaus eine Rolle spielt. So sagt der Völkerrechtler Hans-Joachim Heintze von der Universität Bochum: "Wenn Sie die Zahlen vergleichen und sehen, dass es auf israelischer Seite hauptsächlich Soldaten, auf palästinensischer Seite überwiegend Zivilisten sind, dann ist das meines Erachtens nicht verhältnismäßig." Er bezweifelt, dass die Opfer bei den israelischen Angriffen noch mit dem militärischen Vorteil argumentiert werden können.

Heintschel von Heinegg warnt hingegen vor Zahlenspielen. "Wenn der Gegner ganz bewusst Schutz unter Zivilpersonen sucht, ist es klar, dass der zivile Kollateralschaden deutlich höher wird."

Für Heintze steht Israel vor einem Dilemma: "Eigentlich kann man im Gazastreifen gar keinen bewaffneten Konflikt führen, weil das Gebiet so dicht besiedelt ist." Auch wenn im Vorfeld eines Angriffs die Bevölkerung gewarnt werde − "man weiß gar nicht, wo die Menschen hinsollen, um sich zu schützen."

Doch nicht nur Israel hat die Pflicht, Zivilisten möglichst zu schützen. Auch die Hamas unterliegt als Konfliktpartei denselben völkerrechtlichen Regeln. Als solche müsse auch sie alles tun, um Zivilpersonen und zivile Objekte von militärischen Zielen zu trennen, betont Heintschel von Heinegg. "Wenn man bewusst Zivilpersonen als menschliche Schutzschilde benutzt, dann ist das ein klarer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht." Das gilt laut den Experten im Übrigen auch für Angriffe der Hamas auf die zivile Bevölkerung in Israel. (Julia Raabe, DER STANDARD, 5.8.2014)