Wien - Beim diesjährigen Impulstanz-Festival fallen ganz unterschiedliche Versuche auf, mit den Mitteln zeitgenössischer Choreografie reale oder fiktive Charaktere zu untersuchen.

Da war zuerst die Deponiekönigin Estamira von Alain Platel, dann kamen Rosalind Goldbergs Alien MIT, Geumhyung Jeong als Frau, die einen Bagger liebte, und Rebecca Pateks Vergewaltigungsopfer. Was noch bevorsteht: Florentina Holzingers "Kriegerin", Jérôme Bel als verborgener Autor und Ismael Ivos jugendliche Prostituierte Erendira.

Zurzeit ist gerade - im Akademietheater - ein gewisser John an der Reihe. Der Uraufführung des Stücks John von Lloyd Newson, dem Leiter des britischen DV8 Physical Theatre, gingen große Erwartungen voraus. Newson verspricht mit seinem "Verbatim Theatre" genannten Text-Bewegungs-Konzept eine hautnahe Annäherung an die gesellschaftliche Realität - und einen dokumentarischen Mehrwert, den er einer rein ästhetizistischen Auffassung von reinem Tanz entgegensetzt, die vor allem im anglosächsischen Raum immer noch als dessen gültige Norm vorherrscht.

Das Zweitere ist Newson gelungen. Eine wirklich bemerkenswerte Arbeit hat er trotzdem nicht abgeliefert. Immerhin aber war viel über die deprimierende Lebensgeschichte eines nicht gerade durchschnittlichen Mannes namens John U. zu erfahren. Aber auch mindestens ebenso viel darüber, wie sehr ein Autor eine solche Geschichte zu gestalten vermag.

Der Bonus: So zeigt der 1957 im australischen Albury geborene Regisseur-Choreograf auch von sich selbst etwas her.

Die Londoner Setdesignerin Anna Fleischle hat ihm eine von einem eigenen Maschinisten betriebene hölzerne Drehbühne aufgestellt, die von zwei Tänzerinnen und sieben Tänzern bespielt wird.

Mit dieser beinahe permanent rotierenden Konstruktion aus Wänden und Türen werden sowohl Raum- als auch Zeitabschnitte in wechselnder Dynamik vergegenwärtigt.

Kaum ist das Publikum rasant durch Johns von Gewalt geprägte Kindheit und Jugend gedreht, geht es auch schon hinein in seine Biografie als Kleinkrimineller, Drogenabhängiger und Mann mit lauter Freundinnen, deren Namen auf -a enden.

Abspulen als Methode

John wird vom Tänzer Johannes Langolf verkörpert, der seine einigermaßen anspruchsvolle Rolle meisterhaft bewältigt.

In die Tiefe seines Charakters John geht Newson seltsamerweise nicht. Er bleibt beim Abspulen von Szenen, in denen die Beschreibung von Ereignissen vorherrscht. Auch dann, wenn es intim wird: John entdeckt seine Homosexualität und lebt sie in einschlägigen Saunas aus.

Da schwenkt Newson um ins Ausleuchten dieser Sexkonsum-Tempel, die für John stets befremdlich bleiben, weil es wirklich nur um das eine geht. Und keiner will mit ihm reden.

In einer bestechend offenherzigen Passage wird ein echtes Problem in diesen Sauna-Einrichtungen breit erörtert: Überall sind Fäkalien verteilt, auf den Treppen, den Wänden, im Whirlpool, vor allem in den Duschen bis hin zu unwillkommenen Stuhlproben auf den Körpern der Besucher.

Was John nicht so gerne preisgibt, sind eventuelle Gedanken über die Welt außerhalb seiner unmittelbaren Lebensbewältigungspraxis. Stattdessen führt Lloyd Newson in zum Teil brillant choreografierten Szenen eine Körpersprache vor, die mit den gesprochenen Worten tanzt.

Dadurch erhält das Gesagte zwar nicht mehr Gewicht oder Differenziertheit. Es gewinnt aber an Eindringlichkeit, weil die Worte in "physischer Erweiterung" erscheinen. Deren Dynamik intensiviert das Verhalten der Akteure und verleiht dem Tanz eine ganz spezifische Funktion. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 7.8.2014)