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Im Roman "Cavrein" auf der Jagd nach Steinböcken: "Typen von lethargischer Haltung, denen notorisch alles schnuppe ist, bis zu den Steinen, die ihnen an der Nase vorbeisausen".

Foto: AP/Stefan Gerth

Wien - Der 1959 in einem Graubündner Bergdorf geborene Leo Tuor taugt nicht zum Heimatdichter. Dafür hat er zu viel Zeit als Hirte auf der Alm verbracht. 14 Sommer lebte er dort mit den Schafen und hat die Kargheit des Schweizer Hochgebirges aufgesogen. Davon und von einer sehr unterhaltsamen Widerborstigkeit ist seine Literatur geprägt. In den ersten sechzehn Jahren seines Schaffens entstanden zwei Bücher, schmale. Mehr Zeit ist eben nicht neben der Almwirtschaft, die er nach wie vor betreibt. Doch das Schreiben ist mehr geworden.

Mittlerweile gibt es sogar ein Hauptwerk, die Surselvcr-Trilogie. Drei auf Rätoromanisch geschriebene Romane, von denen der erste sich dem Leben eines Schafhirten widmet (Giacumert Nau, 1988), der zweite (Onna Maria Tumera oder die Vorfahren, übersetzt 2004) einem Gedenkbuch für die toten Seelen der Bergwelt gleichkommt. Und schließlich den grandiosen Jagdroman Settembrini. Leben und Meinungen (übersetzt 2011), in dem ein in zwei Figuren gespaltener (!), literarisch beschlagener und dickköpfig-wilder Onkel seine Jagd- und Tötungsphilosophie darlegt. Dies gehört in Poesie und Inhalt zum Ungewöhnlichsten und Überraschendsten und wahrscheinlich auch Randständigsten, was die zeitgenössische Literatur so hervorbringt.

Leo Tuor schreibt Sätze, die jedem Jäger das Blut in den Kopf schießen lassen. Sätze, die er vor allem dem sturschädeligen Onkel Settembrini in den Mund legt und die von angekratzter Männlichkeit sprechen oder vom billigen Trophäen-Kult. "Der Jäger ist ein Henker, der den Priester mimt. Er braucht eine Liturgie, um das Töten zu überspielen. Weil er spürt, dass das Töten kein ehrbares Geschäft ist."

Nun wäscht Leo Tuor seine Hände nicht in Unschuld; der Graubündner Autor, längst auch mit Preisen überhäuft, ist selbst ein Jäger und also mit dem Töten von Tieren unmittelbar befasst. In seinem jüngsten Roman Cavrein, wieder ein Jagdroman, gerade einmal 89 Seiten lang, folgt der Ich-Erzähler einem Jäger und seinen Begleitern auf eine Hütte zum Behufe der Steinbockjagd. Das erhabene Tier schmückt das Kantonswappen von Graubünden und steht deshalb, so wird ironisch insinuiert, in einem jeden kantonalen Jägerleben auf der imaginären Abschussliste.

Cavrein, von Claudio Spescha ins Deutsche übersetzt, reicht an den rebellischen Duktus von Settembrini nicht heran, bleibt aber eine aufgeweckte, kritische Schrift über das Jagen und seine oft lachhaften Absurditäten. Vor allem aber eine Hymne an die Klugheit und Andersartigkeit der Tierwelt. "Je älter die Böcke sind, desto größere Oblomows werden sie: Typen von lethargischer Haltung, passive Träumer, denen notorisch alles schnuppe ist, bis zu den Steinen, die ihnen an der Nase vorbeisausen."

Hemingway, Melville

Gedrechselt ist Leo Tuors Sprache nicht. Sie ist ein rebellischer Galopp, der mit viel Wissen und unmittelbarer Erfahrung nah an die vom Autor bewohnte Landschaft und die Natur heranführt. In den kargen Beschreibungen des Anpirschens, Auflauerns, Observierens und Nachdenkens über den tödlichen Schuss liegen Bezüge zu den großen Jagdliteraten wie Ernest Hemingway oder Herman Melville verankert, sie wirken zugleich aber auch konterkarierend: "Wenn sie nicht bis auf eine ordentliche Entfernung herankommen, gehen wir bis auf eine ordentliche Entfernung hin." Auch mit Gert Jonke wurde Leo Tuor schon verglichen, dem Autor des Geometrischen Heimatromans, der satirische Strategien auf ähnliche Weise in sein Schreiben eingeflochten hat.

Die anheimelnde Fremdheit dieser Gebirgsliteratur, in der das Wetter meist schlecht und der Wetterbericht natürlich immer falsch ist, verstärkt sich durch den rätoromanischen Kontext. Die Eigennamen der Figuren sind von bezaubernder Rätselhaftigkeit. Rest Modes Deportas der Ältere etwa, über den eine Heiligenlegende existiert. Oder schlicht auch der Originaltitel Catscha sil capricorn en Cavrein.

Vielfach wird dem Schriftsteller die Bewahrung einer alten Welt zugeschrieben, das ist zu romantisch gedacht. Leo Tuor liebt diese, seine Schweizer Landschaft und studiert sie, wie auch seine (bedrohte) rätoromanische Sprache. Seine Gebirgsliteratur aber donnert durch die Jetztzeit. (Margarete Affenzeller, DER STANDARD, 7.8.2014)