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"Viele Schritte werden durch Elga nachvollziehbar. Außerdem fallen Doppelbefunde weg, sie sind ein gutes Geschäft", sagt Hans Jörg Schelling.

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STANDARD: Für die Ärztekammer ist die Gesundheitsreform nur ein Sparpaket, sie beklagt mangelnde Wertschätzung ihres Berufsstands. Können Sie das nachvollziehen?

Schelling: Nein, gar nicht. Die Ärztekammer war in den wesentlichen Fragen, auch jetzt beim Primärkonzept, von Anfang an mit eingebunden.

STANDARD: Doch bei der Primärversorgung wird stark über die künftige Rolle des Hausarztes diskutiert. Kritiker befürchten eine Entmachtung.

Schelling: Wir haben immer wieder betont, dass es uns um eine Stärkung des Hausarztes geht, nicht um eine Schwächung. Hier wird viel Propaganda betrieben, auch von der Ärztekammer.

STANDARD: Aber auch in eigenen Reihen: ÖVP-Gesundheitssprecher Erwin Rasinger argumentiert ähnlich.

Schelling: Da kann man darüber diskutieren, ob er das als Gesundheitssprecher sagt oder die Ärztekammer vertritt. Wir wollen den Patienten in den Mittelpunkt rücken und die wohnortnahe Versorgung optimieren. Das sind in erster Linie längere Öffnungszeiten, auch am Wochenende. Bei unserem Konzept geht es um das Team rund um den Hausarzt. Nichtärztliche Berufe sollen in die Versorgungsketten eingebunden werden, damit sich neue Formen der Zusammenarbeit entwickeln. Das geschieht unter der Leitung des Hausarztes. Wichtig ist dabei auch die Ausbildung der Ärzte, die ja gerade reformiert wird. Die heutige ist dafür nicht geeignet.

STANDARD: Inwiefern?

Schelling: Es gibt drei große Krankheitsbilder, die in der aktuellen Ausbildung zum Allgemeinmediziner nicht berücksichtigt werden: Herz-Kreislauf, Stütz- und Bewegungsapparat und mit etwas Abstand psychische Erkrankungen. Die Turnusausbildung ist wichtig und wertvoll, aber sie hat mit dem Akutfall eines Patienten in der niedergelassenen Praxis fast nichts zu tun.

STANDARD: Bei der Primärversorgung soll der Hausarzt die Koordinierung übernehmen, das sind auch administrative Aufgaben. Damit bleibt doch wieder weniger Zeit bei den Patienten.

Schelling: Nein, weil wir schon flankierende Maßnahmen wie die elektronische Gesundheitsakte (Elga) gesetzt haben. Der Informationsfluss wird verbessert und weniger administrative Arbeit geschaffen, wenn alle Medikationen erfasst sind. Außerdem wollen wir kein Gatekeeper-System: Die freie Arztwahl bleibt. Keine Frau muss zuerst zum Hausarzt gehen, bevor sie ihren Gynäkologen konsultieren kann. Der niedergelassene Praktiker soll einfach bei chronischen Krankheiten die Gesundheitskoordination übernehmen.

STANDARD: Wird ein Grippepatient in Zukunft noch zu einem praktischen Arzt gehen?

Schelling: Das hängt von den regionalen Strukturen ab. Es wird auch in zehn bis fünfzehn Jahren noch Einzelpraxen geben - ob das sinnvoll ist, ist eine andere Frage.

STANDARD: Geplant ist auch eine medizinische telefonische Auskunft. Wer ist der erste Ansprechpartner?

Schelling: Wie in einem Callcenter: eine ausgebildete Fachkraft. Sie muss erkennen, wer übernimmt: etwa ein Internist oder ein Chirurg.

STANDARD: Warum nicht gleich zu einem Arzt?

Schelling: Weil es dann ungesteuert ist: Deswegen sollte das durch einen strukturierten Frageprozess, wie es auch im Rettungswesen üblich ist, gelenkt werden.

STANDARD: Das Konzept ruft viele Kritiker auf den Plan.

Schelling: Ich kann nur allen Kritikern sagen: Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben. Ich kenne das schon von der E-Card oder von Elga. Da scheinen andere Motive dahinterzustecken.

STANDARD: Welche?

Schelling: Viele Schritte werden durch Elga nachvollziehbar. Außerdem fallen Doppelbefunde weg, sie sind ein gutes Geschäft.

STANDARD: Obwohl elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Gesundheitsausgaben fließen, gibt es keine messbaren Resultate.

Schelling: Die Lebenserwartung hängt nur zu einem geringen Prozentsatz von den Gesundheitsausgaben ab. Mehr als die Hälfte des Geldes fließt in die Spitalslandschaft.

STANDARD:Wo müsste dann investiert werden?

Schelling: Wir wollen Durchbrüche bei der Vorsorge erreichen, deswegen haben wir einen Präventionsfonds eingerichtet. Der wichtigste Punkt ist, die Menschen dazu zu bringen, zu erkennen, Teil ihrer Gesundheit zu sein.

STANDARD: Da müsste man schon bei Kindern ansetzen.

Schelling: Genau. Wenn die Unterrichtsministerin bei den Turnstunden kürzt, wissen wir, dass es auf die Gesundheit Auswirkungen hat. Meine Wunschvorstellung ist, nicht nur jedes Gesetz auf die Auswirkungen auf die Finanzen oder auf die Umwelt zu prüfen, sondern auch auf die Auswirkungen auf die Gesundheit.

STANDARD: Für jedes Gesetz einen Gesundheitscheck?

Schelling: Ja, selbst bei der Bauordnung. Stiegen werden so versteckt, dass alle den Lift nehmen. Das zu ändern ist auch Prävention.

STANDARD: Und wie wollen Sie Kinder zu einem gesünderen Lebensstil erziehen?

Schelling: Da braucht es eine Änderung in der Kindergartenpädagogen- und in der Lehrerausbildung. Ernährung kommt dort so gut wie gar nicht vor. Nutznießer ist nicht alleine das Gesundheitssystem, sondern das Pensionssystem, weil Menschen länger arbeiten. Wir müssen den Menschen klarmachen, dass ihr Körper genauso wichtig ist wie ihr Auto, das sie schonend behandeln. Wenn Sie mit Sommerreifen im Winter fahren, zahlt die Versicherung nichts, bei uns dürfen Sie alles tun. (Marie-Theres Egyed, DER STANDARD, 11.8.2014)