Recip Tayyip Erdogan steht nach seinem Sieg im ersten Wahlgang auf dem Höhepunkt seiner Macht. Doch ob seine Amtszeit als türkischer Präsident zum Erfolg wird oder nicht, hängt in erster Linie von einer Zahl ab, mit der sich der Regierungschef Erdogan nicht oder nur ungerne beschäftigt hat.
Die türkische Wirtschaft weist für das erste Quartal des Jahres ein Leistungsbilanzdefizit von 7,5 Prozent auf, das größte seiner Geschichte und größer als das aller anderen Schwellenländer.
Die Leistungsbilanz ist einer der wichtigsten und am wenigsten beachteten ökonomischen Messzahlen. Sie misst die Gesamtexporte und -importe einer Volkswirtschaft – also neben Handel auch Dienstleistungen und andere Zahlungsflüsse, denen Leistungen entgegenstehen.
Mehr konsumieren als produzieren
Ein Defizit bedeutet, dass die Volkswirtschaft mehr konsumiert und produziert – und die Lücke durch ausländisches Kapital füllen muss. Das macht Länder abhängig von ausländischen Kreditgebern oder Investoren.
Die USA, die seit 40 Jahren Leistungsbilanzdefizite einfahren, haben nie ein Problem, diese zu finanzieren. Aber Schwellenländer sind viel verwundbarer – und ein Land wie die Türkei, deren Premier Ausländer als Feindbilder betrachtet, begibt sich so in die Hand jener, denen es misstraut – und die dem Land immer mehr misstrauen.
Die Türkei fährt schon seit Jahren ein hohes Leistungsbilanzdefizit ein. Ein guter Teil ihres phänomenalen Wirtschaftswachstums ist auf Pump entstanden.
Teure Inputs werden importiert
Die Gründe dafür sind vielfältig. Die Türkei exportiert zwar viel, aber ihre Industrieunternehmen ebenso wie die Bauindustrie müssen viele Inputs – vor allem teure Maschinen - importieren, weil sie diese nicht oder nicht in entsprechender Qualität selbst produzieren.
Das gilt selbst für den Fremdenverkehr: Der Bau von Fünfsternehotel-Anlagen belastet die Handelsbilanz, und die ausgleichenden Deviseneinnahmen kommen erst später.
Das ist ein Strukturproblem, das die Regierung Erdogan gar nicht lösen kann. Aber indem sie große Infrastrukturprojekte forcierte und die wachsende Mittelschicht zum Konsumieren anregte, trug sie zum Anwachsen des Leistungsbilanzdefizits bei.
Euphorie für den "anatolischen Tiger"
Ein weiterer Grund für diesen Anstieg war die starke Lira, deren Kurs erst vor rund zwei Jahren zu fallen begann. Die Stärke wiederum reflektierte die Euphorie für den „anatolischen Tiger“, der Investoren aus aller Welt anlockte.
Aber gerade die Ernüchterung in den Finanzmärkten über seine Herrschaft macht Erdogan das Regieren leichter. Der Kurs der Lira ist gefallen, ohne dass es – so wie 2001 – zu einer Finanzkrise gekommen ist. Die flexiblen Wechselkurse des Landes haben die Anpassung erleichtert.
Die schwache Lira kurbelt nun die Exporte und den Tourismus an und dämpft die Lust der Türken auf importierte Waren, die teurer geworden sind. Sie haben das geschluckt, ohne an der Wahlurne zu revoltieren.
Das Defizit schrumpft
Die Leistungsbilanz ist in den vergangenen Monaten erstmals geschrumpft, und für das Jahr erwartet die Regierung einen signifikanten Rückgang von 65 auf 55 Milliarden Dollar (48,5 auf 41 Milliarden Euro). Ökonomen rechnen sogar mit einem Rückgang auf 45 Milliarden Dollar – und das trotz des Wegfalls der meisten Exporte in den Irak.
Eine solche Entwicklung würde Investoren und Kreditgeber beruhigen und die Finanzierung des verbliebenen Leistungsbilanzdefizits, das immer noch auffallend groß ist und dies wohl noch viele Jahre bleiben wird, erleichtern.
Kriegen Erdogan und seine Leute das Defizit nicht in den Griff, dann müssen sie immer um dessen Finanzierung zittern – und einen noch viel massiveren Währungsverfall fürchten, der schließlich auch die Popularität und Stabilität der Regierung gefährden würde.
Dann könnte Erdogans jüngster Wahltriumph sein letzter gewesen sein. (Eric Frey, derStandard.at, 10.8.2014)