Der Spruch "Ich komme von der Erde und habe gute Absichten" des Künstlers Bernhard Wolf war beliebtes Fotomotiv der Schau.

Foto: Höller

Nischni Nowgorod - Die Konfrontation zwischen Russland und der EU sorgt zunehmend auch für kulturelle Kollateralschäden - Ende Juli sagte die polnische Regierung das für 2015 geplante polnische Kulturjahr in Russland ab. Hingegen läuft die österreichisch-russische Kultursaison, die bereits im Mai 2013 gestartet wurde, indes ungebrochen weiter: Erst dieser Tage eröffnete im Staatlichen Zentrum für zeitgenössische Kunst (GZSI) der Wolgametropole Nischni Nowgorod eine großangelegte Gruppenausstellung, anschließend wird sie auch in Moskau zu sehen sein.

Obwohl das russische Kulturministerium zuletzt über eine Doktrin diskutierte, in der Russland nicht mehr als Teil Europas gesehen werden soll, und wiederholt rückwärtsgewandte Signale aussandte, bleibt Zeitgenössisches weiterhin äußerst gefragt. Zu danken ist das der Arbeit engagierter Kunstinstitutionen - auch in der russischen Provinz. Das Interesse an der österreichischen Schau, in der aus lokaler Sicht prominente Namen fehlen, kann als Indiz gelten: Trotz Urlaubssaison war zur Eröffnung die Resonanz groß - nicht nur vom klassischen Kunstpublikum: Auch modisch gekleidete Teenager und eher ländlich geprägte Damen mit Kopftüchern demonstrierten sichtlich Interesse.

Desiring the real, so der Titel der von Karin Zimmer kuratierten Schau, zeigt durchwegs Arbeiten einer mittleren Künstlergeneration, die zwischen 2000 und 2010 entstanden sind. Inhaltlich ist das Ausstellungsthema allerdings wenig konkret; gezeigt wird Gegenwartskunst, die vielfältige Wirklichkeiten vielfältig reflektiert.

Geistesblitze

Nilbar Güres etwa ist mit der oft gezeigten Videoarbeit Undressing (2009) vertreten; darin befreit sich die anfänglich völlig vermummte Künstlern sukzessive von dutzenden Schleierschichten. Der Fitnesstrainer von David Moises und Janka Chris mit angeschlossenem Van-de-Graaff-Generator darf als ironischer Kommentar zur künstlerischen Inspiration gelten: Strampelt man genug, lässt er kleine Blitze entstehen. In einem Treppenaufgang angebrachte, grafische Elemente von Esther Stocker verweisen ihrerseits auf die Raumwahrnehmung.

Ergänzt wurde die Präsentation mit Interventionen im öffentlichen Raum: Bernhard Wolf hinterließ in der Industriemetropole und fünftgrößten russischen Stat, einige Kürzesttexte. Sein an einem Flussufer angebrachter Spruch "Ich komme von der Erde und habe gute Absichten" wurde auch in den Räumen des GZSI reproduziert und avancierte dort während der Vernissage zum begehrten Fotomotiv.

Als Wanderausstellung konzipiert, touren die Werke, die mehrheitlich aus der Kunstsammlung des Bundes stammen, seit 2012 um den Globus: Zu sehen war sie etwa im mexikanischen Guanajuato, in Belgrad, Bozen, Havanna oder in Istanbul. Die Künstlerauswahl verhehlt nicht, dass es sich um ein Projekt der Kulturdiplomatie handelt. Kuratorin Zimmer, Leiterin der Abteilung für kulturelle Auslandsangelegenheiten, setzt ohne Zweifel auf hohe künstlerische Qualität, verzichtet aber auf allzu radikale Werke.

Während die "diplomatische" Auswahl anderswo als Manko angekreidet werden könnte, fügt sie sich hier ausgezeichnet in den lokalen Kontext: Im 1990 in Nischni Nowgorod rückumbenannten Gorki, das ob seiner militärischen Industrie jahrzehntelang für Ausländer gesperrt war, haben Kunsthistorikerin Anna Gor und die 2005 verstorbene Kuratorin Ljubow Saprykina Anfang der 1990er-Jahre zeitgenössische Kunst quasi aus dem Nichts etabliert.

Ihre Institution, die als weitgehend autonome Filiale des Staatlichen Zentrums für zeitgenössische Kunst in Moskau fungiert (dort ist "Desiring the Real" von 17. 10. bis 30.11. zu sehen), zählt mittlerweile zu den Fixpunkten des russischen Kunstbetriebs. 2015 werden 1600 Quadratmeter Ausstellungsfläche im ehemaligen Arsenal von Nischni Nowgorod eröffnet. Die Umbauarbeiten nach Plänen des prominenten Moskauer Architekten Jewgeni Ass laufen bereits auf Hochtouren.

Kunst statt Protest

Man habe vor mehr als 20 Jahren analysiert, wie Gegenwartskunst vor Ort unabkömmlich werden könne, erzählt Anna Gor, heute Direktorin des Zentrums: Großes Interesse gebe es an einer Kunst, die Möglichkeiten der Reflexion und des Dialogs aufzeige, die komplizierte Fragen stelle, ohne dabei allzu scharfe Antworten zu geben, erklärt sie: "Denn anders als in der Hauptstadt Moskau und in St. Petersburg, hält unser Publikum nur wenig von Protest und Provokation." (Herwig Höller aus Nischni Nowgorod, DER STANDARD, 11.8.2014)