Bild nicht mehr verfügbar.

Jack Nicholson als Revoluzzer McMurphy im Machtkampf mit dem Pflegepersonal. Die Darstellung im Film hat mit der heutigen Psychiatrie nicht mehr viel gemein, so Experten.

Foto: United Artists, AP,dapd

Diskussion in Stockerau.

Foto: florian bayer

Am Samstag ging zum letzten Mal "Einer flog über das Kuckucksnest" im Sommertheater Stockerau über die Bühne, dessen Verfilmung mit Jack Nicholson von 1975 das Bild der Psychiatrie prägte wie kein anderer Film. Die Romanvorlage (1962) stammt von Ken Kesey, der durch seine eigenen Erfahrungen als Aushilfe in einer kalifornischen Psychiatrieabteilung zu seinem medizin- wie auch gesellschaftskritischen Werk inspiriert wurde.

Anlässlich der letzten Aufführungen in Stockerau stellten sich ein Teil des Ensembles, Betroffene, Angehörige, ein Psychiater und eine Krankenschwester die Frage, welche Gültigkeit das Stück heute noch hat und wie es rund vier Jahrzehnte nach dem Film um die Psychiatrie steht. Das einstimmige Fazit: Viel besser als damals beziehungsweise als im Stück dargestellt - auch, wenn es noch immer viel zu tun gibt, vor allem was gesellschaftliche Akzeptanz betrifft.

Nur ein Theaterstück

"Es ist ein Theaterstück und bleibt ein Theaterstück. Manche Dinge sind sicher gleich geblieben, einige ganz anders", sagt Wolfgang Grill, Facharzt für Psychiatrie im Landesklinikum Hollabrunn. Ärztliche Tätigkeit und der Aufbau der Stationen hätten sich grundlegend geändert. So würde heute nicht mehr mit Sanktionen oder gar Gewalt gedroht. Körperliche Bestrafungen wie Elektroschocks bis hin zu Lobotomie als letztem Mittel, wie im Stück, spielen in der Therapie keine Rolle. Aber auch die absolute Geschlossenheit und das Verlieren jeglicher Autonomie entsprechen schon lange nicht mehr der Realität.

"Wir zeigen eine Welt, die es in der Psychiatrie so nicht mehr gibt", sagt auch Intendant und Regisseur Zeno Stanek. Schließlich orientiert sich das Stück stark am literarischen Original, das im Amerika der 1960er spielt. Allerdings gebe es in den psychiatrischen Abteilungen von Gefängnissen auch heute noch ähnliche Probleme wie im Stück thematisiert: Dort liege "einiges im Argen", seien doch Zwang und das Ausnutzen von Machtpositionen immer noch die Regel.

Mehr Transparenz

"Früher wussten wir nicht, welche Medikamente wir bekommen haben. Man musste in der Reihe anstehen und nehmen, was man verordnet bekam", sagt Andrea G., die schon mit 16 Jahren zum ersten Mal wegen einer Essstörung auf eine psychiatrische Station kam - und seitdem immer wieder. Damals, Ende der 1990er, seien Patienten auch noch ans Bett angebunden worden; viele hätten versucht, abzuhauen. Wer nichts aß, wurde zwangsernährt, schildert die Betroffene. "Damals war ich sehr ängstlich und unsicher. Heute ist es in den Spitälern viel besser, das System ist hervorragend."

Auch in der Pflege hätte sich sehr viel getan, berichtet Elisabeth Lehner, Krankenschwester und akademische Fachkraft für Sozialpsychiatrie. "Machtkämpfe haben überhaupt keinen Sinn - so etwas erlebt man heute glücklicherweise nicht mehr", sagt sie. Während im Stück die Patienten darum kämpfen müssen, Fußball im Fernsehen schauen zu dürfen, sei das heute - zuletzt bei der Weltmeisterschaft - kein Problem mehr. Im Gegenteil: Man sehe die Begeisterungsfähigkeit der Patienten als eine Ressource, die man nutzen kann, um Langeweile und Lethargie zu bekämpfen. Viele würden positive Erinnerungen und Erlebnisse an Fußballspiele knüpfen. "Diese Freude zu bremsen oder gar zu unterbinden wäre kontraproduktiv", sagt Lehner. Auch in der Therapie werde damit gearbeitet.

Überhaupt hätte die Darstellung wenig mit der therapeutischen Realität gemein. Im Stück seien schließlich keine Pfleger, sondern gewaltbereite Wärter am Werk. Auch der meterhohe Maschendrahtzaun, der Schauspieler vom Publikum trennt, zeigt, dass die dargestellte Station mehr mit einem Gefängnis als mit einer Therapieeinrichtung zu tun hat. In den Spitälern sei es ganz anders, so Lehner: "Schon seit Jahren geht die Entwicklung in Richtung weniger Zwang, offene Psychiatrie, mehr Personal. Nicht zuletzt geht es um ein gutes Verhältnis. Das schönste an meinem Job ist eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung zum Patienten."

Beziehungen aufbauen

"Wir haben gewusst, dass wir die Persönlichkeit eines tatsächlich Betroffenen nie werden abbilden können. Unsere Darstellungen bleiben Mickymaus-Abziehbilder", sagt Karl Ferdinand Kratzl, der selbst viel Erfahrung mit psychischen Krisen hat und dessen Nebenrolle als liebenswürdiger, wenngleich latent gefährlicher Bombenbauer in Erinnerung bleibt.

Seiner Erfahrung nach hätten viele psychisch Kranke größte Schwierigkeiten, eine enge Beziehung zu jemand anderem aufzubauen - und wenn es dann auf der Station endlich so weit ist, sei die Therapie oft schon wieder vorüber. Viele erleben das dann als ein neuerliches Fallen-gelassen-werden. Kratzl: "Wenn jemand immer nur gelernt hat, nicht zu vertrauen, dann lernt er es dort gleich wieder."

Nicht unproblematisch findet er die Entwicklung zu immer kürzeren, dafür aber häufigeren Aufenthalten und Interventionen. "Viele werden entlassen und sind dann allein zu Hause, bis ihnen wieder die Decke auf den Schädel fällt. Dann kommt man in eine Station, zum wiederholten Male." Dort gebe es neben der wichtigen Therapie vor allem Langeweile, viel Fernsehen, viel Rauchen, viel 'Gschaftlhuberei' - "die aber auch notwendig ist".

Es brauche schon viel Glück, um an jemanden zu kommen, mit dem man sich versteht und dem man vertraut. In der Regel sei aber gar nicht genug Zeit, tieferes Vertrauen zu anderen Patienten oder dem Personal aufzubauen, denn kaum hat man sich eingelebt - so gut das eben möglich ist - sei die Behandlung auch schon wieder vorbei. Beim Wechsel von einer Institution zu einer anderen erzählt man die eigene Leidensgeschichte immer und immer wieder, bis sie zu einer "Horroranekdote" wird, sagt Kratzl. Oder man behält sie für sich.

Auch Psychiater Grill bestätigt, dass die Aufenthalte eher kürzer geworden sind ("Krisenstationen"). In Niederösterreich liege die durchschnittliche stationäre Behandlungsdauer bei elf bis 14 Tagen. "Das hat nichts mehr mit Einrichtungen wie Gugging gemein, wo Betroffene über Monate oder gar Jahre untergekommen sind", so der Experte. Dafür gebe es mittlerweile vermehrt Tageskliniken, die über die stationäre Betreuung hinaus Sicherheit und Struktur bieten. Dass man die eigene Leidensgeschichte heute öfter erzählen muss als früher, stimme aber sicherlich.

Rolle der Angehörigen

Nicht vergessen darf man die enormen Herausforderungen für Angehörige. "Wenn jemand in der Familie erkrankt, ist das als ob eine Bombe einschlägt. Man weiß nicht, was passiert, ist sprachlos, machtlos, ohnmächtig", sagt Johanna Toifl, die aus eigener Not heraus eine Angehörigengruppe in Hollabrunn ins Leben gerufen hat.

Schon das Bewältigen des Alltags sei für psychisch Kranke oftmals enorm schwierig, was für Außenstehende nicht immer verständlich ist. Hier sei auch die Politik gefordert, denn vor allem ärmere und chronisch kranke Patienten hätten oft Schwierigkeiten beim Organisieren ihres Alltags, etwa beim Finden einer leistbaren Wohnung. Auch müssten mehr Freizeiteinrichtungen und Orte des Austauschs für Betroffene geschaffen werden.

Nicht selten ist ihr zufolge auch die Umwelt ein Problem ("Der spinnt"). Während am Anfang noch die Neugier der Mitmenschen überwiegt, käme daraufhin eine "lange Zeit der Stille und Gleichgültigkeit", sagt Toifl: "Solange man nicht unmittelbar selbst betroffen ist interessiert es einen nicht." Patienten und deren Angehörige stehen dann allein mit ihren Problemen da.

Grenzen ziehen

Besonders schwer ist nicht nur die Zeit auf der Station, sondern auch danach, wenn Betroffene wieder in ihr eigenes Leben zurückfinden wollen. Schließlich müsse man ständig freundlich sein, niemals streng mit dem Kranken sein und immer eine gute Miene machen, egal wie zerrissen man innerlich ist. Das zehrt mit der Zeit an den eigenen Kräften, sagt Toiflf.

Umso wichtiger ist es, klare Grenzen zu ziehen und, falls nötig, auch als Angehöriger Hilfe in Anspruch zu nehmen: "Man muss nicht immer Ja und Amen sagen und über seine Kraft arbeiten. Man darf auch einmal etwas einfordern vom Betroffenen". Auf sich selbst zu achten und gelegentlich auch Abstand zu suchen, etwa in Form von Ausflügen am Wochenende, könnte helfen, wieder Kräfte zu sammeln und dann wieder mit frischer Energie für den Betroffenen da zu sein.

"Die Angehörigen sind extrem wichtig, aber erst die letzte Gruppe, um die man sich kümmert. Zuallererst kommt natürlich der Patient", sagt Grill. Seiner Erfahrung nach nehmen Familienmitglieder Hilfsangebote aber auch oft zu wenig wahr. Selbst auf ausdrückliche Einladung würde nur etwa jeder Vierte zu einem Angehörigengespräch kommen.

Gleich behandeln

Was soll sich ändern? Grill wünscht sich, das Außenseitertum von psychisch Kranken zu beenden und sie wie alle anderen Kranken zu behandeln: "Da ist schon viel passiert - Depressionen und Burnout werden heute etwa viel mehr akzeptiert als früher. Bei anderen Erkrankungen, etwa Schizophrenie und Psychosen, gibt es aber noch viel zu tun." Häufig würden Medien im Zusammenhang mit psychisch Kranken und Kriminalität einseitig oder übertrieben berichten.

Auch das US-Kino und das heimische Fernsehen (etwa Kommissar Rex) tragen das ihre bei, wenn der Böse ein schizophrener, sadistischer Serienmörder ist. "Hier löst man unbewusst Ängste aus, nicht nur bei Kindern. Dafür ist mehr Bewusstsein nötig", sagt Lehner.

Bessere Versorgung

Toifl wünscht sich vor allem eine bessere Infrastruktur: Mehr Tageskliniken, betreutes Wohnen, psychosoziale Dienste. All das gebe es zwar, auch in Niederösterreich, allerdings überwiegend dezentral und öffentlich schwer bis unmöglich zu erreichen. In anderen Bundesländern funktioniere das wesentlich besser. Horst Heiss, der im Stück die heimliche Hauptperson, den Häuptling Bromden, spielt, wünscht sich mehr Annäherung von beiden Seiten: "Die Gesunden sollen die psychisch Kranken mehr mitnehmen und die Grenzen verschwimmen lassen.

Auch Kratzl erhofft sich mehr Akzeptanz: "Ich fürchte mich vor der Idee der Tüchtigkeit, dass sich immer alles auszahlen muss. Ich würde mir wünschen, dass wir alle unsere Schattenseiten kennen, schätzen und ausleben können." Die ständige Scheinheiligkeit, Selbstbelügerei und gegenseitiges Misstrauen seien ungesund. Schließlich habe jeder sein "Pinkerl" zu tragen. Man muss, so Kratzl, nur sehen, wie man damit umgeht und sich mit sich selbst versöhnen: "Es ist gut, was ist. Mehr Selbstakzeptanz wäre ein Lichtblick." (Florian Bayer, derStandard.at, 12.8.2014)