Kommendes Unheil: Lav Diaz' "From What is Before" erzählt von den Philippinen vor Verhängung des Kriegsrechts 1972.

Foto: Locarno

Das Filmfestival von Locarno macht seit einigen Jahren aus der Not eine Tugend. Während größere Produktionen Herbstfestivals wie Toronto und Venedig bevorzugen, hat man sich im Tessin als jene Nische etabliert, wo es ein Kino zu entdecken gibt, das etablierte Formen und Sehgewohnheiten infrage stellt. Festivaldirektor Carlo Chatrian beweist auch in seinem zweiten Jahr eine geschickte Hand in der Programmierung. Auf der Piazza Grande setzt er mit Filmen wie Jasmila Zbanics halb garer Sommerkomödie Love Island zwar auf breite Unterhaltung, im Wettbewerb finden sich dafür Autoren wie Lav Diaz, Pedro Costa oder JP Sniadecki, die unnachgiebig an ihren filmischen Weltentwürfen arbeiten.

Der philippinische Regisseur Lav Diaz ist etwa berüchtigt für seine Langfilme, die sich im äußersten Fall über einen halben Tag erstrecken. Im fast sechs Stunden langen From What is Before vergegenwärtigt er das kommende Unheil eines Gewaltregimes im äußersten Süden seines Landes, in Mindanao. Der in Schwarz-Weiß gedrehte Film beginnt 1970 und endet im Herbst 1972, zu jenem Zeitpunkt, als General Marcos das Kriegsrecht verhängt hat.

Allerdings bleibt dieser politische Hintergrund zunächst verdeckt. Schauplatz des Films ist ein abgeschiedenes Barrio in den Sümpfen, ein Dorf, das immer noch ohne Strom ist. Dort lebt eine Handvoll Figuren einen Alltag ohne Optionen: eine Frau, die ihre schwerbehinderte Schwester pflegt; ein Wildhüter, der einen fremden Jungen großgezogen hat; eine aufdringliche Händlerin, die üble Gerüchte in Umlauf bringt und sich als Spion entpuppt.

Diaz faltet mit großer Übersicht Lebenszusammenhänge auf, das Dorf ist organisch wie ein Baum, und die Dauer des Films lässt seine Wurzeln sichtbar werden. Dann geschehen seltsame Dinge: Rinder werden erschlagen im Wald gefunden, ein Toter liegt auf einer Kreuzung. Angst und Gewalt ist in From What is Before schon da, bevor mit dem Militär die Willkür des Staates auftritt. Wie Lav Diaz an einem Außenposten die Verhärtungen des Landes anschaulich macht, ist meisterhaft. Er muss keine Übergriffe zeigen. Die fragilen Strukturen des Dorfes zerbrechen von selbst. Diaz interessiert sich nicht für die Gewalt, er will an eine alte Kultur erinnern, die eine kataklystische Geschichte fast ausgelöscht hat.

Eigenbrötler des Kinos

Ein weiterer Eigenbrötler des Kinos ist der Franzose Eugène Green. Sein in lakonisch starren Szenen arrangierter Wettbewerbsbeitrag erzählt von einem Architekten und seiner Frau, einer Gruppentherapeutin, die sich nicht mehr viel zu sagen haben. Auf einer Reise in den Tessin begegnen sie einem jugendlichen Geschwisterpaar. Zufall oder Schicksal? Ein Zusammentreffen jedenfalls, von dem alle vier auf überraschende Weise profitieren.

La Sapienza trägt seine Auseinandersetzung zwischen Jugend und Alter vor allem über Architektur und Sprache aus. Der ausgebrannte Architekt bricht mit dem jungen Mann, der auch einmal "Räume schaffen will", nach Italien auf. Sie besichtigen Bauten des Barockarchitekten Francesco Borromini, die Kameramann Raphael O'Byrne wie leuchtende Himmelskörper ins Bild rückt.

La Sapienza ist ein Film über den Idealismus der Vergangenheit, den man sich in der Gegenwart neu erschließen muss. Green, ein Barockexperte, verkörpert diese Liebe zum Alten selbst, wenn er in einer Szene als Wiedergänger eines ausgestorbenen Volkes auftritt. Als Regisseur öffnet er Türen, durch die sich (nicht nur für die Figuren) neue Betrachtungswinkel ergeben.

Eine genuine Locarno-Entdeckung ist indes der US-Amerikaner Joel Potrykus, der hier 2012 mit Ape ein wunderbar punkiges Langfilmdebüt vorlegte. In Buzzard führt er nun seine Animal-Trilogie zu Ende und erzählt mit demselben Hauptdarsteller, dem unnachahmlichen Joshua Burge, von einem jungen Mann, dem jegliche Ambition fehlt. Was er zum Überleben braucht, das holt er sich über Betrügereien, die bevorzugt das in den USA so großgeschriebene Konsumentenservice zweckentfremden: Er tauscht Dinge gegen Geld, die ihm nicht gehören; er eröffnet Konten, nur um den Bonus zu kassieren.

Buzzard ist fraglos ein unebener Film, mitunter zu nahe dran an infantiler Regression. Doch es schlummert auch nackte Wut darin, großartige Unwilligkeit, einfach so weiterzumachen, nur damit andere noch reicher werden. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 12.8.2014)