Besser nicht auf die Uhr schauen: Nachtdienste fangen für Wiener Ärzte in der Früh an und können bis zum nächsten Tag dauern.

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Einmal sei jemand nach dem Kinobesuch hereingeschneit mit den Worten: "Ich habe seit sechs Wochen Probleme, ich dachte, jetzt frag ich mal nach." Im Gespräch habe sich gezeigt, dass der Betreffende seit Jahren immer wieder von Durchfallbeschwerden heimgesucht wurde. Dass jemand dann ausgerechnet in der Nacht "in ein Krankenhaus spaziert", ärgert nicht nur Philip Eisenburger, den Leiter der Notfallaufnahme im Wiener Wilhelminenspital.

Ärzte warten nicht

Spricht man mit Spitalsärzten über Nachtdienste, kennen viele ähnliche Geschichten wie Eisenburger. "Manche Leute meinen, es ist ja auch ihr Steuergeld, mit dem Spitäler finanziert werden", sagt der Internist. "Die Leute sehen, es brennt Licht, und denken: Warum soll ich nicht hineinmarschieren?" Einige seien auch "ganz unbedarft, denken gar nicht nach und kennen das System nicht". Was vielen Personen, die in der Nacht eine Notaufnahme aufsuchen, nicht klar sein dürfte, ist, dass dort kein Arzt darauf wartet, von einem Patienten wachgehalten zu werden, und dass dort Menschen in einem Setting behandelt werden, das um ein Vielfaches mehr kostet als der Betrieb einer Ordination eines niedergelassenen Arztes.

Der Arbeitstag des diensthabenden Nachtdienstlers hat um acht Uhr früh begonnen und endet erst am nächsten Tag: 25 Stunden dauern Nachtdienste bei Ärzten des Wiener Krankenanstaltenverbunds (KAV) sowie im Allgemeinen Krankenhaus (AKH). Vier bis fünf Nachtdienste hat ein Spitalsarzt im Durchschnitt.

Erster Programmpunkt ist die Morgenbesprechung. Dabei erläutern die Ärzte der vergangenen Nacht den Kollegen in der Notaufnahme im Wilhelminenspital in Ottakring außergewöhnliche und besondere Fälle im Plenum. Weitere Neuzugänge schildern die Mediziner einander zur Übergabe in Zweiergesprächen. Um 10 Uhr läuft der Betrieb so richtig heiß, mehr oder weniger durchgehend bis ein Uhr früh. "Wann es zu Spitzen kommt, ist unberechenbar", sagt Eisenburger. Es komme auch ab und zu vor, dass binnen einer Stunde plötzlich 30 Patienten dastünden. "Das ist aber selten."

Nur wenige werden weggeschickt

Das Gros - etwa neun von zehn Personen, die selbst den Weg ins Spital finden - muss nicht stationär aufgenommen werden. "Von denen, die mit der Rettung kommen, sind es circa zwei Drittel", fasst Eisenburger zusammen. Die wenigsten würden gleich am Schalter weggeschickt, sagt der Notfallmediziner. Das komme vereinzelt vor, etwa wenn jemand einfach eine Impfung will oder sich eine Zecke nicht selbst entfernen kann.

Ein Wiener Facharzt, der sich wegen der enormen Belastung - acht Nachtdienste im Monat seien üblich gewesen - aus dem Spitalsdienst freiwillig verabschiedet hat, drückt es so aus: "Wir haben im Gesundheitssystem keine Kostenexplosion, sondern eine Leistungsexplosion."

Eisenburger sagt es so: "Man muss einkalkulieren, dass Menschen immer weniger Akzeptanz dafür haben, dass nicht alles rund um die Uhr möglich ist." Pro 24 Stunden werden über die Abteilung, die Eisenburger seit knapp einem Jahr leitet, im Schnitt 28 Patienten auf internistischen Abteilungen stationär aufgenommen. Drei bis fünf weitere kommen auf andere Abteilungen wie Chirurgie, Urologie oder Gynäkologie. Vorher würden "alle ausführlich abgeklärt". Von den Personen, die pro Tag kommen, sind zwei bis sechs in einem lebensbedrohenden oder dem Tod nahen Zustand, "bei denen eine verzögerte Behandlung von einer Viertelstunde einen vitalen Unterschied machen würde", wie es Eisenburger sagt. Der hinzufügt: "Für diese Patienten wird man Notfallmediziner."

Lange Wartezeiten

Die Ärzte haben bei jedem Eintreffenden einzuschätzen, wie dringend er behandelt werden muss. Wer ins Spital kommt, weil die Hausarztordination gerade geschlossen ist, der aber keinen Notfall darstellt, müsse mit vier Stunden Wartezeit rechnen. "Wartezeiten sind ein großes Thema, deshalb bekommen wir immer wieder Beschwerden." Manchmal würden Wartende auch aggressiv. "Ich empfehle immer: Wenn jemand kommt, soll er sich auf Wartezeit einstellen, genügend Lesestoff und ein voll aufgeladenes Handy mitnehmen", sagt Eisenburger.

Zwischen 110 und 170 Menschen kommen täglich in seine Abteilung. "Immer wieder sind plötzlich Menschenmassen da, und keiner weiß so recht, warum." Insgesamt waren es im Vorjahr am Wilhelminenspital 47.000 Personen. In allen Wiener städtischen Spitälern plus Allgemeinem Krankenhaus (AKH) zusammen waren es nach Angaben des KAV insgesamt knapp 270.000 Besuche. Etwa 80-mal am Tag fährt laut Eisenburger im Schnitt die Rettung das Krankenhaus an.

Einen "Riesenanteil" an den Menschen, die mit einem Problem ein Spital aufsuchen, machen laut Eisenburger Personen mit Migrationshintergrund aus. "Da fehlt einerseits die Aufklärung, wie das System funktioniert", und andererseits komme da auch eine große Zahl Betroffener, die einen Arztbesuch nicht während der Arbeitszeit absolviert, weil die Angst besteht, sie könnten den Job verlieren.

Notwendige Ruhezeiten

Natürlich könne es auch passieren, dass scheinbar harmlose Beschwerden gravierende Ursachen haben. "Es können zum Beispiel auch Herzinfarkte ohne akute Schmerzen vorkommen", sagt Eisenburger. Es sei auch nicht so, dass nur die kränksten Personen mit dem Rettungswagen gebracht würden. "Es kommt auch vor, dass Leute mit Blutvergiftung oder Meningitis sich selbst einweisen." Manchmal frage er sich auch: "Wie haben die Leute es überhaupt noch hierhergeschafft?"

Dass eine bestimmte Zeit eher ruhig ist, kommt eigentlich nur gegen vier Uhr früh vor, sagt Eisenburger. Dann war der Arbeitstag des Nachtdiensthabenden bereits 20 Stunden lang. Die Notaufnahme am Wilhelminenspital ist bis 13 Uhr mit acht Ärzten besetzt. Sechs davon absolvieren Dienste bis in den Nachmittag. Ab circa 18 Uhr sind noch die vier Nachtdiensthabenden übrig. Zwei davon sind Turnusärzte in Ausbildung. Die Mediziner im Nachtdienst sollten eigentlich nicht dauernd im Einsatz sein, sondern auch Ruhezeiten haben, wie auch aufseiten der Ärztekammer immer wieder betont wird. Nicht selten sei es auch erforderlich, dass Ärzte nach ihrem 25-Stunden-Dienst noch mehrere Stunden im Spital bleiben, klagen Ärzte verschiedener Fächer.

"Man soll nicht durcharbeiten"

Martin Andreas, Betriebsrat im Wiener AKH, sagt, der Nachtdienst sei eigentlich als "Bereitschaftsdienst vor Ort" gedacht: "Man soll nicht durcharbeiten, sondern man ist dazu da, um bereit zu sein, wenn man benötigt wird." Die Realität sieht aber oft anders aus. Das Ziel müsse sein, die Dienste wieder ruhiger zu gestalten. AKH-Ärzte sollten im Schnitt vier bis fünf Nachtdienste im Monat haben. Jeder Nachtdienst wird dort in Überstunden abgegolten. Bei den Ärzten des KAV sind im Grundgehalt schon drei Dienste inbegriffen, sie haben laut Andreas Martin oft etwas mehr Nachtdienste zu bewältigen.

Eisenburger kann die Schilderungen des Betriebsrats bestätigen: "Von einem Herunterfahren auf Bereitschaft kann in der Notaufnahme keine Rede sein", sagt er. Von den zwei diensthabenden Turnusärzten ist mindestens einer permanent wach, ein Oberarzt komme vielleicht zu drei Stunden Schlaf. Gemeinsame Abendessen seien auch nur Wunschgedanke. Die Realität ist meist, "halb sitzend ein Semmerl herunterzuwürgen". Man müsse wieder mehr zu einem echten Bereitschaftsdienst zurück, meint Eisenburger.

Denn: "Es sollte drin sein, dass ein Arzt zwischendurch auch durchschnauft - eine Stunde später kann halb Ottakring kommen." Derzeit ist es so, dass nur ein einziger Patient instabil zu sein braucht, und zwei Ärzte sind gebunden - nachts ist das die halbe Abteilung. Für das Pflegepersonal gilt im Übrigen ein Schichtdienst: Krankenschwestern dürfen während ihrer Nachtdienste gar nicht schlafen, allerdings arbeiten sie weniger lang am Stück - es gibt Früh-, Spät- und Nachtdienste.

Geradezu "apokalyptische Tage" in der Notaufnahme seien der 25. und der 26. Dezember, sagt Eisenburger. Nach vier Wochen Adventskalenderessen und dem Weihnachtsfest hätten die Menschen dann plötzlich allerhand Beschwerden. An diesen Tagen empfiehlt er seinen Leuten, "dringend ausgeschlafen und mit fertig geschmierten Butterbroten zu erscheinen". (Gudrun Springer, DER STANDARD, CURE, 19.8.2014)