Bild nicht mehr verfügbar.

Die Medizin kann viel von der Luftfahrt lernen. Im Bild die Maschine, die mit defekten Triebwerken im New Yorker Hudson River notgelandet ist - der Pilot konnte eine Katastrophe verhindern.

Foto: AP Photo/Kathy Willens

Flug 1549 der US Airways, 15. Jänner 2009, es ist 15.27 Uhr, die Maschine befindet sich im Steilflug, ist gerade vom New Yorker Flughafen LaGuardia abgehoben. Eine plötzliche Erschütterung. Unnatürliche Stille, keine Turbinengeräusche, dünne Rauchschwaden ziehen durch die Kabine, Panik. Angeblich riecht es nach Kerosin, angesengten Haaren und verbranntem Fleisch.

Fünf Minuten später wird das Flugzeug im Hudson River landen - mit einem Totalschaden. Alle 150 Passagiere und die fünfköpfige Besatzung überleben. Später wird bekannt werden, dass der Flieger bereits neunzig Sekunden nach dem Start mit einem Schwarm Wildgänsen kollidierte und dadurch beide Triebwerke ausfielen. Die Bilder der Rettungsaktion gehen um die ganze Welt, der Kapitän und seine Crew als Helden in die Annalen der Fluggeschichte ein.

Was das mit Patientensicherheit in österreichischen Krankenhäusern zu tun hat? Ziemlich viel, sagen Experten. Oder es könnte zumindest viel damit zu tun haben, denn Medizin und Luftfahrt haben einiges gemeinsam: "Beides sind hochkomplexe Themen, in beiden Bereichen können hochstandardisierte Vorgänge und perfektes Teamwork eine Katastrophe verhindern", sagt Hans Härting, Flugkapitän der Austrian Airlines, der Krankenhäuser berät. In der Medizin sei das im Vergleich zum Flugwesen bloß noch nicht angekommen.

Der absolute "OP-Super-GAU"

In Österreich gibt es keine konkreten Zahlen, wie häufig es zu falschen Behandlungen, Infektionen im Krankenhaus oder Kunstfehlern kommt. "Im Grunde sind diese aber auch gar nicht nötig", sagt Gerald Bachinger, Sprecher der österreichischen Patientenanwälte, "niemand bezweifelt, dass es bei uns die gleichen Probleme gibt wie in anderen Nationen mit vergleichbaren medizinischen Standards".

Liest man Statistiken und Erhebungen solcher Länder, sind die Zahlen beunruhigend: Vierzigmal pro Woche soll in den USA der "OP-Super-GAU" passieren, dass nämlich der falsche Patient, ein Bein auf der falschen Seite oder ein gesundes Organ operiert wird. Jährlich versterben dort rund 100.000 Menschen aufgrund von Ursachen, die durch Ärzte oder das System hervorgerufen werden, weitere 195.000 Menschen an vermeidbaren Fehlern. In Deutschland sterben jährlich etwa 17.000 Menschen aufgrund von Behandlungsfehlern im Operationssaal.

"Als Patientenanwalt bin ich immer wieder mit solchen Fällen konfrontiert. Erst kürzlich wieder wurde jemandem in einem heimischen Krankenhaus am falschen Knie operiert", sagt Bachinger. Häufig seien krankenhausbedingte Infektionen, seltener, aber doch komme es vor, dass Tupfer oder Scheren im Patienten vergessen werden. Auch für Bachinger steht fest: Um diese Art von Fehler zu vermeiden, braucht es nicht vor allem technische Verbesserungen oder neue, aufwändige Verfahren, die "einfachsten Dinge" würden reichen. Doch was sich nur sehr schleppend verbreitet, ist das notwendige Umdenken.

Effektive Banalitäten

Ein einfaches Instrument, um mehr Sicherheit zu gewährleisten und ohne das Bordpersonal in der Luftfahrt längst nicht mehr auskommt, sind Checklisten. Die Plattform Patientensicherheit, eine Initiative des Gesundheitsministeriums, hat für Österreich ein solches OP-Sicherheitspapier zusammengestellt. Demnach sollte ein eigener Checklisten-Koordinator vor jeder Operation gewisse Punkte abfragen - vor der Anästhesie sowie vor Beginn und am Ende des Eingriffs. Konkret etwa, ob die Identität des Patienten festgestellt wurde, ob Blutkonserven vorhanden sind oder ob nach dem Eingriff die Instrumente wieder komplett sind.

Was nach absoluten Banalitäten klingt, rettet nachweislich Leben - die Effektivität einer solchen Liste wurde bereits in mehreren internationalen Studien belegt. Das Problem: In Österreich gibt es sie nun zwar seit einigen Jahren, verpflichtend ist sie allerdings nicht. "Von einer flächendeckenden Verwendung kann noch längst nicht gesprochen werden. Es gibt bis heute genug Ignoranten, die glauben, dass sie so etwas nicht brauchen", sagt Bachinger. Außerdem muss auch der Gebrauch einer Checkliste trainiert werden.

"Was die Medizin von der Luftfahrt lernen kann?", fragt Kapitän Härting in einen Saal voller Mediziner an der MedUni Innsbruck, die skeptisch auf das Rednerpult starren. "Die Fehlbarkeit des Menschen muss in das System integriert werden." Die Gesichter zeigen keine sichtbare Reaktion. Man solle sich vorstellen, führt Härting aus, dass eine Flugbegleiterin bemerkt, dass am Flugzeug irgendetwas nicht stimmt. "Geht sie zum Piloten, und der sagt: 'Ich bin für die Sicherheit zuständig, teil du deine Getränke aus' , wird sie ihn nie wieder auf einen Fehler hinweisen."

Starre Hierarchien

Was Härting damit sagen möchte: In vielen österreichischen Krankenhäusern herrschen bis heute starre Hierarchien, die die Kommunikation zwischen Ärzten und Operationspflegekräften blockiert und dadurch das Teamwork erschweren. "Auch im OP weiß fast immer irgendjemand, wenn etwas falsch läuft. Die Frage ist, ob derjenige sich traut, das zu sagen."

Wie in Flugsimulatoren können Operationsteams inzwischen in eigenen Schulungszentren den gemeinsamen Umgang mit Notfällen trainieren. OP-Vorgänge werden durchgespielt, aufgezeichnet, analysiert. Ziel ist es dabei eben vor allem, die sogenannten "non-technical-skills" auszubilden: "Teamorientierung, situative Aufmerksamkeit, Führungsfähigkeit, Kommunikation und Kooperation haben zentrale Bedeutung für die Bewältigung von medizinischen Notfällen und den effektiven Einsatz vorhandener Ressourcen", wirbt das Niederösterreichische Zentrum für medizinische Simulation und Patientensicherheit.

Es gibt also zahlreiche Möglichkeiten, um die Gefahren bei einer Operation einzudämmen. Nicht ausgeschöpft würden sie - da sind sich fast alle Experten einig - aus einem entscheidenden Grund: Personalmangel. "Eigentlich sollte bei jeder Operation ein Assistent in der Lage sein, den Eingriff zu übernehmen. Real ist das aber fast nie der Fall", sagt Raimund Margreiter, ehemaliger Vorstand der Innsbrucker Universitätsklinik für Chirurgie. Die Gefahr durch zu lange Ärztearbeitszeiten hält Margreiter hingegen für überschätzt: "Die besten Ergebnisse erzielen Chirurgen nachweislich nach Nachtdiensten."

Sicherheitsfaktor Patient

Während der Risikofaktor Chirurg, mögliches menschliches Versagen und eine offene Fehlerkultur immer mehr Beachtung finden, wird auf einen als Absicherung bis heute weitgehend vergessen: den Patienten. "Man kann den direkt Betroffenen in das System aufnehmen, ohne Verantwortung abzugeben. Ihm vor der Operation etwa noch vorformulierte Fragen stellen", sagt Bachinger. Denn niemand wisse über das Leiden besser Bescheid als der Leidende selbst. (Katharina Mittelstaedt, DER STANDARD, CURE, 19.8.2014)