Sie sind klein, meist unscheinbar graugrün und schuppig, und sie lagern bevorzugt auf Baumstämmen und Mauern: Flechten. Das sind Pilze, in denen mikroskopisch kleine Algen leben. Von dieser Gemeinschaft haben beide etwas. Die Alge bekommt eine Schutzhülle und ein einigermaßen stabiles Lebensumfeld, der Pilz profitiert von den energiereichen Stoffen, die die Alge aus Kohlendioxid und Sonnenlicht mittels Fotosynthese herstellt.
Dabei hat die Alge aber ein Problem. Wenn der Pilz zu stark wächst und zu dick wird, bekommt sie zu wenig Sonne. "Wir vermuten, dass diese symbiontischen Algen Stoffe produzieren können, die das Wachstum des Pilzes hemmen", sagt Christoph Griesbeck, Algenexperte und Professor am Management Center Innsbruck (MCI). Und er meint, dass man mit dem Wirkstoff, den die Alge einsetzt, um das Wachstum des Pilzes zu stoppen, auch Krebswachstum bremsen könnte.
Auf der Suche nach Organismen, die auch für den Menschen nützliche Stoffe produzieren, haben Forschende seit einigen Jahren auch Algen im Visier. Algen leben und überleben oft unter extremen Bedingungen wie Trockenheit, Hitze und starker UV-Strahlung. Genau das macht sie für die Forschung interessant, ist Griesbeck überzeugt. "Lebewesen, die sich an extreme Bedingungen angepasst haben, verfügen oft über ungewöhnliche biochemische Mechanismen", sagt er.
Über diese weiß man heute aber noch wenig. Dass manche Algen Bakterien abtöten können, ist schon bekannt. "Eine antibakterielle Wirkung ist bereits nachgewiesen, wir wissen aber noch nicht, mit welchen Substanzen sie das machen", erklärt der Biologe Alexander Jäger von der Fachhochschule Oberösterreich. "Seit Jahrzehnten wurden keine neuen Antibiotika entwickelt. Bakterien werden jetzt gegen die gängigen Antibiotika zusehends resistent, deshalb wären neue Antibiotika und Viren hemmende Substanzen aus Algen sehr attraktiv", ist Jäger überzeugt.
Systematisches Screening
Auch für die Produktion von Nahrungsmitteln sehen die Forscher neue Perspektiven. So werden Algen auch danach untersucht, ob und wie viel wertvolle Fettsäuren sie produzieren könnten. "Viele Fische enthalten deshalb so hohe Mengen der begehrten Omega-3-Fettsäuren, weil sie Algen fressen. Die Algen sind die eigentlichen Produzenten dieser Fettsäuren", erklärt Griesbeck.
Die Wissenschafter wollen die Sache jetzt systematisch angehen. Und sie erwarten Überraschungen, besonders was die Verwertbarkeit für den Menschen betrifft. Griesbeck und seine Kollegen von der FH Oberösterreich in Wels sowie vom Austria Drug Screening Institute (ADSI) in Innsbruck haben von der österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft FFG gerade neue Projektmittel aus dem Programm Cooperation & Innovation (COIN) zugesprochen bekommen. Die Forscher wollen nach sogenannten Wertstoffen in den Algen suchen. Nach Stoffen, die man in Medizin, Nahrungsproduktion oder Kosmetik einsetzen kann.
Möglich wird dieses neue Projekt auch deshalb, weil die Universität Innsbruck eine große Sammlung seltener Boden-, Luft- und Flechtenalgen beherbergt. An die 1500 Algenarten aus dem alpinen Raum Mitteleuropas wachsen dort auf einem speziellen Nährmedium und stehen der Forschung zur Verfügung.
Gemeinsam mit Beständen einer weiteren Sammlung an der Universität Göttingen verfügen die Projektpartner damit über einen reichen Vorrat an potenziellen Wirkstoffquellen. "Wir planen, mit den Algenbeständen eine komplette Pipeline aufzubauen, von der Kultivierung der Algen über die Aufbereitung der chemischen Verbindungen bis hin zum Screening auf ihre mögliche Wirkung", sagt Projektleiter Griesbeck.
Optimale Bedingungen
Das Team von Lukas Huber, wissenschaftlicher Direktor für Zellbiologie am ADSI und Partner des Algenprojekts, soll die biochemischen Verbindungen analysieren und auf ihre Wirksamkeit prüfen. Er und seine Kollegen sind darauf spezialisiert, Krebszellen in einer naturnahen Umgebung zu züchten. Die Stammzellen und Bindegewebszellen des Knochenmarks zum Beispiel würden sich in naturnaher Umgebung anders verhalten als im Reagenzglas. "In unserem Modell des multiplen Myeloms, einer Krebserkrankung des Knochenmarks, bauen wir das Knochenmark nach", schildert Huber einen Teil seines Beitrags.
Für Alexander Jäger von der FH Oberösterreich liegt eine der Herausforderung darin, von den einmal identifizierten Wirkstoffen ausreichende Mengen zu produzieren. "Einerseits müssen wir den Algen optimale Bedingungen für ihr Wachstum bieten, andererseits gilt es, dafür zu sorgen, dass sie möglichst viel von den interessanten Verbindungen synthetisieren."
Neue Algenreaktoren
An Bioreaktoren, die Algen bestmögliche Bedingungen für ihr Wachstum bieten, wird weltweit schon länger gearbeitet. Meist geht es dabei aber um die Produktion von Ölen für alternative Kraftstoffe. Die dort verwendeten Reaktoren sind durchsichtig und sehr flach, damit möglichst viel Licht zu den Algen gelangt. "Diese Technik ist aber aufwändig und sehr teuer", erklärt Jäger. Deshalb tüfteln er und sein Team an einer neuen Art von Algenreaktor, der die Produktion deutlich effizienter und günstiger machen soll. Das ist aber eine andere Geschichte. (Klaus Wassermann, DER STANDARD, 13.8.2014)