"Mein Leben muss erst anfangen", sagt Herr Noori aus Afghanistan. Sein Leben scheint "eingefroren", während er hofft, dass seine Frau und sein drittes Kind nach Österreich kommen dürfen.

Foto: Der Standard/Christa Minkin

Wien - Er war immer auf der Flucht. Mit seinen zwei Kindern (6, 9) sitzt der 33-jährige Herr Noori in einem Aufenthaltsraum beim Österreichischen Roten Kreuz (ÖRK). Er ist gekommen, um seine Geschichte zu erzählen. Doch nun sitzt er mit einem Lächeln und erschöpften Augen am Tisch und die Worte fehlen ihm. Er zuckt mit den Schultern. Er seufzt. Was gibt es denn eigentlich zu erzählen? Wie soll es ihm schon gehen, wenn seine Familie zerrissen ist?

Aus seiner Heimat Afghanistan musste Herr Noori mit Frau und Kindern nach Pakistan flüchten, dann in den Iran, später mit seinem Sohn nach Europa - seit 2012 sind die beiden in Österreich und gelten als anerkannte Flüchtlinge.

Nur Tochter durfte nachkommen

Mithilfe des Büros für Familienzusammenführung des ÖRK versuchte Herr Noori, die restliche Familie nachzuholen. Geklappt hat es bisher nicht. Die Tochter durfte nachreisen. Die Ehefrau nicht - das jüngste Kind blieb bei ihr.

Die meisten Anträge auf Familienzusammenführung beim Roten Kreuz werden erfolgreich abgewickelt. Das liege daran, dass schon vorab geklärt werde, ob die gesetzlichen Auflagen erfüllt würden, sagt Claire Schocher-Döring, Leiterin der Abteilung für Familienzusammenführung und Suchdienst. Unvorhergesehenes könne aber immer passieren; so wie im Fall von Herrn Noori, der seine Frau nur nachholen dürfte, wenn er sie schon vor der Flucht im Heimatland geheiratet hätte. Die Ehe wurde aber erst in Pakistan geschlossen.

Familie verschwand im Wasser

Die Flüchtlinge haben in solchen Situationen das Gefühl, dass ihr Leben "eingefroren" sei. Besonders ausgeprägt sei das bei Menschen, die auf der Flucht Angehörige verloren haben, sagt Schocher-Döring und erzählt von einer Frau, die miterlebt habe, wie Mann und Kinder im Wasser verschwanden, als das Flüchtlingsboot kenterte. "Eigentlich müsste ich annehmen, dass sie tot sind", habe die Frau später gesagt. "Doch niemand hat es mir bewiesen."

In solchen Fällen kommt der Rotkreuz-Suchdienst ins Spiel. Wenn Menschen aufgrund von bewaffneten Konflikten, Katastrophen oder Migration Angehörige verlieren, hilft er dabei, diese wieder aufzufinden. Eine Aufgabe, die mit der Suche nach der Nadel im Heuhaufen vergleichbar ist.

Detektivarbeit

Die Antragsteller werden zwar nach möglichst genauen Angaben gefragt (Umstände, die zum Kontaktverlust geführt haben; Name, Adresse der gesuchten Person), trotzdem erweise sich die Suche oft als Detektivarbeit: Man bekomme auch Beschreibungen wie "Mein Bruder wohnte drei Dörfer weiter, hinter der Moschee und neben dem Teppichverkäufer", erzählt Suchdienstleisterin Schocher-Döring.

Die Rotkreuz-Mitarbeiter müssen sich also vor Ort durchfragen. Da wird mit Stammesältesten und Vorbetern gesprochen, da werden Schulen abgeklappert, Moscheen besucht und Nachbarn befragt.

Bei der Suche gehe es oftmals darum, das Schicksal von Personen aufzuklären; nicht immer darum, jemanden tatsächlich zu finden. In glücklichen Fällen - wie bei der Frau, die ihre Familie im Wasser verschwinden sah - werden aber auch Totgeglaubte gesund und munter wiedergefunden.

Keine Ausschlusskriterien

Gesucht werden Menschen überall auf der Welt und so lange, bis ein Resultat herauskommt. Geografische Lage oder kilometerlange Fußmärsche seien kein Ausschlusskriterium. "Wenn wir irgendwo aufgrund der Sicherheitslage nicht hinkommen, dann warten wir ab, bis wir hinkönnen. Es wird nie aufgegeben", sagt Schocher-Döring. Deshalb sei es auch schwer, von einer Erfolgsquote zu sprechen. Die Suchdienstleiterin schätzt, dass nur rund zehn Prozent der Fälle, die aus aktuellen Konflikten resultieren, gelöst werden. Allerdings gelten Anträge erst dann als abgeschlossen, wenn sie ein Ergebnis bringen; und es gebe einige, an denen seit den 1990er-Jahren gearbeitet wird.

Gefühl vom "eingefrorenen" Leben

Herr Noori musste den Suchdienst nie in Anspruch nehmen. Er konnte den Kontakt zu seinen Angehörigen aufrechterhalten. Er hofft nun, dass es mit der Familienzusammenführung doch noch klappt. Seine Tochter hat einen eigenen Asylantrag gestellt und wird ihre Mutter möglicherweise nachholen dürfen. Wann das sein wird, ist unklar - er muss warten und hoffen.

Das Gefühl vom "eingefrorenen" Leben scheint aber auch er zu haben. "Mein Leben muss erst noch anfangen", sagt er, während Sohn und Tochter lächelnd in einer Kinderzeitschrift blättern. (Christa Minkin, DER STANDARD, 13.8.2014)