Die US-Genetikerin Sarah Tishkoff nimmt DNA-Proben beim Volk der Hadza in Ostafrika. Sie ist eine der mehr als 130 Expertinnen und Experten, die Nicholas Wades Buch offen kritisieren.

Foto: Tishkoff

New York / Wien - Es ist schon wieder 20 Jahre her, dass die Harvard-Professoren Charles Murray und Richard Herrnstein für heftige Kontroversen sorgten: In ihrem 1994 veröffentlichten Buch "The Bell Curve" - der Titel spielt auf die Verteilung der Werte von Intelligenztests an - behaupteten sie, dass in den USA Zusammenhänge zwischen der ethnischen Herkunft und dem Intelligenzquotienten bestünden.

Murray und Herrnstein erklärten diese Unterschiede, die sich in den vergangenen Jahren im Übrigen verkleinerten, aber nicht mit sozioökonomischen Faktoren, sondern mit einer angeblich schlechteren genetischen Veranlagung der schwarzen US-Amerikaner.

Nun scheint sich die Debatte um "Menschenrassen" und ihre Differenzen unter etwas anderen wissenschaftlichen Vorzeichen zu wiederholen. Auslöser ist auch diesmal wieder ein Buch, das der britisch-amerikanische Wissenschaftsjournalist Nicholas Wade im Juni publizierte.

Problematische Spekulationen

Der 72-jährige Wade, der für angesehene Fachmedien wie "Nature" und "Science", aber auch für die "New York Times"gearbeitet hat, gibt in "A Troublesome Inheritance" (auf Deutsch etwa "Ein mühseliges Erbe") einen Überblick über die jüngsten Erkenntnisse der Populationsgenetik. Problematisch wird es spätestens im dritten und letzten Teil des Buches, in dem der Autor unter anderem darüber spekuliert, dass genetische Unterschiede zwischen verschiedenen "Rassen" erklären könnten, warum etwa westliche Regierungen stabiler seien als solche in Afrika.

Eines der zentralen Argumente von Wade: Die ersten modernen Menschen, die sich vor knapp 100.000 Jahren von Afrika aus in andere Regionen der Welt begaben, seien dort mit einem höheren Selektionsdruck konfrontiert gewesen. Dieser habe bei den Menschen außerhalb Afrikas zu einer größeren Anzahl genetischer Anpassungen und womöglich eben auch zu einer höheren Intelligenz geführt. Zudem gebe es fünf "Grundrassen", die sich aufgrund der langen geografischen Isolation auch genetisch gut unterscheiden ließen.

Offener Brief in der "New York Times"

Etliche der Populationsgenetiker, deren Studien Wade in seinem Buch als Beweismaterial heranzieht, fühlten sich angesichts solcher Deutungen falsch interpretiert. Ihr Unmut ging so weit, dass mehr als 130 Experten einen offenen Brief unterzeichneten, der am Sonntag in der "New York Times" erschien.

Darin kritisieren die Forscher insbesondere Wades Spekulationen über die Zusammenhänge zwischen Selektionsdruck, genetischen Unterschieden und verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Es gebe keine Indizien dafür, dass der Selektionsdruck zu Unterschieden in der Intelligenz oder im Verhalten geführt habe, kritisiert die US-Populationsgenetikerin Sarah Tishkoff, eine der Unterzeichnerinnen des Briefs, in einem Bericht von "Nature News".

Zudem sei die Behauptung der fünf genetisch unterscheidbaren "Rassen" nicht haltbar: Sie habe in ihren Studien zur genetischen Vielfalt der Weltbevölkerung vielmehr 14 genetisch unterscheidbare Gruppen gefunden - die meisten davon übrigens in Afrika. "Wade behauptet, ein Pressesprecher für die Wissenschaft zu sein", sagt Tishkoff. "Aber genau das ist er nicht." (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 13.8.2014)