Das Highlander-Prinzip gilt. Immer. Schließlich kann nur einer Recht haben. Das ist nun mal so im Leben - und da Selbermach-Sport genauso Teil des Lebens ist, wie Religion, Fußball-Teameinteilungen oder Fußgängerzonenplanung, gilt eben auch beim Laufen das Highlander-Prinzip: Wer Recht hat, der hat eben Recht - und wenn einmal, dann immer.

Nackt im öffentlichen Raum: "Crossfit" heißt der Trend - und die Herren, die ihm folgen, trainieren am liebsten öffentlich - und halbnackt.
Foto: Thomas Rottenberg

Also stellte Walter Kraus seinen Lauf-Knigge unlängst auf Facebook. Wieder einmal. "Aus gegebenem Anlass“, wie er schrieb. Knigge steht für: „Das ist so.“ Punktum. Etikette ist schließlich kein Debattenthema - sie wird postuliert und postulieren darf nur einer. Der Papst zum Beispiel. Dann heißt das Highlander-Prinzip "ex cathedra“. Das nächste Wort lautet dann "Dogma“. Und wer Dogmen definiert (und damit Gehör findet) ist Papst. Lauf-Papst zum Beispiel. Das kann man zu Walter Kraus schon sagen.

Um ein Missverständnis gar nicht erst entstehen zu lassen: Walter Kraus ist ein sehr sehr guter Trainer. Er trainiert einige meiner besten Freunde - und zwar ganz hervorragend. Seine Laufgruppen und vor allem seine Laufplattform „Runtasia“ gehören mit zum besten, was man als Hobby- und Nicht-nur-Hobbyläufer in Österreich finden kann. Abgesehen davon ist Kraus ein umgänglicher, freundlicher, schlauer, witziger und angenehmer Mensch dessen Kompetenz ich keine Sekunde in Frage stelle: Wenn Kraus übers Laufen spricht, hat die Sache Hand und Fuß.

Walter Kraus beim Hügellauftraining seiner Gruppe Runtasia in Schönbrunn.
Foto: Thomas Rottenberg

Bloß: Gilt das dann automatisch auch für einen "Knigge“, also einen Benimmguide? Schließlich geht es in solchen Werken ja nicht um Fachwissen und Technik - sondern um Verpackung, Präsentation und soziale Normen. Kraus‘ Lauf-Knigge ist da nicht anders: Der Versuch, neben dem rein Faktischen auch beim Drumherum dem Volk Rat, Hilfe und Orientierung zu geben. Eigentlich eine hehre und schöne Sache.

Doch die Sache mit "Knigges“ ist ein bisserl komplex: Takt- und Benimmführer sind oft ein bisserl so, wie Thomas Schäfer-Elmayers legendärerer Benimmguide "Gutes Benehmen wieder gefragt“: Vieles darin kann ich vollen Herzens unterschreiben. Einiges fällt unter "Food for thought“. Und Manches (etwa die Rolle die Frauen bei Geschäftsessen oder beim Stiegensteigen zugetraut wird) passt einfach nicht in meine Welt. Beim "Benimmpapst“ Elmayer gibt's da so Einiges - bei Kraus genau einen Punkt: Die Kiste mit dem Oben-Ohne Laufen.

Kraus erklärt den nackten (Männer)-Oberkörper beim Laufen nämlich zum "No-Go“ - und erntet damit auch in meinem Umfeld nicht nur jede Menge, sondern vielfach auch pauschale Zustimmung. Oder eben vehementen Widerspruch. Aus einem Eintrag in diesem Blog aus dem Vorjahr weiß ich, dass es kaum ein Thema gibt, das noch mehr Postings evoziert, als die Frage: Dürfen die Buben - oder dürfen sie nicht. Nur ein einziges noch konfliktträchtigeres Laufthema dürfte es geben: "Schreib mal über das Beinerasieren bei Männern“, lachte Wachau-Marathon-Veranstalter Michael Buchleitner im Vorjahr, "da geht noch mehr die Post ab, als wenn du Oben-Ohne-Laufen thematisierst.“

Lainzer Tiergarten, 29 Grad: Nackte Männer mitten im Wald - der französische Korrespondent und Marathonläufer Jerome Segal und Just Kpoti Agbodjan Prince treffen auf Thomas Rottenberg. Zufällig und topless.
Foto: Thomas Rottenberg

Buchleitner, das nur nebenbei, gehört zur Kraus-Fraktion. Ich nicht. Jedenfalls außerhalb dicht verbauter Gebiete: Im Wald - und dazu zählt auch der Prater - laufe ich, wenn es warm ist, shirtlos. In der Stadt nicht. Die Frage, ob der Schlosspark von Schönbrunn Stadt oder Land ist, ist dabei eines der zahllosen Streitthemen, mit denen ich und meine Lauffreundin H. uns gerne in die Haare geraten: Sie meint, der Respekt vor Ensemble und Gärten gebiete es, das Shirt anzuhaben - und nicht bloß mitzutragen. Ich verweise dann auf die Gärtner, die das barocke Gartenensemble respektvoll hegen und pflegen - und zwar topless.

Wenn man es weiß, auch zu erkennen: Nicht nur der Läufer, auch der Gärtner schwitzt in Schönbrunn shirtless.
Foto: Thomas Rottenberg

Das Schöne an der Oben-Ohne-Debatte ist, dass sie keine Kompromisse zulässt. Weil es halb-topless nicht gibt. So wie man nur nackt oder nicht-nackt in der Sauna sitzen kann: Die Demarkationslinie ist eindeutig - beim Laufen vermutlich noch eindeutig-eindeutiger, als in der Schwitzhütte. Dort kann man zumindest mit Handtüchern so tun, als ob.

Noch einen Unterschied zur Sauna gibt es: Während in der Sauna klassische Genderstereotype nicht in Frage gestellt werden (u.a.: Männer gaffen, Frauen fühlen sich begafft), ist das beim Laufen diffiziler: Die Absolutheit, mit der Frauen (aus meinem ästhetischen Empfinden meist nachvollziehbar) erklären, dass sie "keine schwabbeligen blassen Bierbäuche, keine rachitischen Hendlbrüste oder verfallende Altmännerkörper und vor allem keine schweißglänzenden Rückenpelze“ beim Laufen vor, neben oder hinter sich sehen wollen, weil außerdem "immer nur die Männer, die es sich nicht leisten können“ ihre Leiberln ausziehen, möchte ich nur einmal ansatzweise in einer Minirock-, Legging- oder Nabelfrei-Diskussion artikuliert hören. Von einem Mann - in einer gemischten Runde: Zielgerichteter kann man kaum in einen Genderwatschentanz hineinrennen.

Doch wenn hier dann zu Recht mit der Sexismuskeule ausgeholt wird (ja, es geht keinen Unbeteiligten was an, was und wie eine Frau sich anzieht): Wenn Frauen über oben-ohne-laufende Männer den Stab brechen, ist das "was anderes.“ Was, habe ich zwar noch nie verstanden - aber ich nehme es lieber zur Kenntnis.

Ist ein schweißtriefendes T-Shirt wirklich ästhetischer als ein schwitzender Körper?
Foto: Thomas Rottenberg

Mir ist es nämlich mittlerweile egal: Ein schweißtriefendes Shirt am Körper - und wenn ich im Sommer zwei Stunde laufe, IST "schweißtriefend“ der korrekte Ausdruck - ist in meinen Augen kaum schöner als ein nackter Oberkörper. Anstoßen oder sonstwie physischen Kontakt aufnehmen, will ich als Unbeteiligter mit beiden nicht. Und ob da ein lascher Altmänner- oder durchdesigneter Hollywoodjungbeaukörper transpiriert, macht in Sachen Nichtankommen-Wollen wenig Unterschied.

Neulich - auf der Marswiese - kickte und lief Altkanzler Wolfgang Schüssel nebenan. Es war drückend schwül. Schüssel trainierte oben ohne. Und auch wenn wir natürlich alle lästerten, fand ich genau dieses Verhalten im Grunde vollkommen in Ordnung: Schüssel war offenkundig egal, was andere über ihn und sein Verhalten dachten. Und tat, was er für richtig hielt.

Altkanzler Wolfgang Schüssel
Foto: Thomas Rottenberg

Nicht zum ersten Mal, je sais. Aber es war das erste Mal, dass ich ihn deshalb irgendwie cool fand. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 14.8.2014)