Jérôme Bel hat den Tanz in neue Bahnen gelenkt.

Foto: Regine Hendrich

Wien - Dieses Stück fällt ganz und gar aus dem Rahmen von Impulstanz. Sein Titel: Jérôme Bel. Sein Choreograf: Jérôme Bel. Und wer ist nicht auf der Bühne? Jérôme Bel. Uraufgeführt 1995 in Paris, gehört diese Arbeit zu den im zeitgenössischen Tanz einflussreichsten und meistdiskutierten des vergangenen Vierteljahrhunderts. Warum? Weil es darin ausschließlich um die Realität des Körpers auf der Bühne und um die Grundelemente des Theaters geht.

Jetzt hat das Wiener Festival den 49-jährigen französischen Choreografen dazu eingeladen, sein Stück - im Schauspielhaus - wieder zu zeigen. Das Motiv dafür liegt in der Frage, wie der Impakt von einst in den heutigen gesellschaftlichen und künstlerischen Zusammenhängen wirkt. Widerstrebend erklärte sich Bel bereit.

In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre war Jérôme Bel ein Schock für viele Tanzfreunde und -experten. Denn in dem auf minimale Mittel reduzierten Fünfzigminüter ist das Tanzvokabular auf Bewegungen, wie normale Verrichtungen sie erfordern, beschränkt. Und die Choreografie besteht lediglich aus der präzisen Organisation einiger Verrichtungen, die den fünf nackten Personen auf der Bühne auferlegt sind.

Drei der Tänzerinnen und Tänzer sind von Anfang an dabei: Claire Haenni, Frédéric Sequette und Yseult Roch. Letztere hält von Beginn an bis zum Schluss eine Glühlampe. So repräsentiert sie einfach das Theaterlicht.

Die Musik verkörpert in der Reprise Michèle Bargues. Und die hat sich im Vergleich zur Originalversion verändert. Damals wurde - laienhaft und ohne Instrumentenbegleitung - Strawinskys Le sacre du printemps gesungen. Jetzt sind es Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen.

Und anstatt Stings Englishman in New York gibt es nun zum Schluss Abbas Dancing Queen von Eric Affergan zu hören. Wie die Bach-Musik ist auch dieser Song mit Absicht "schwach" gesungen. Denn Jérôme Bel ist auch ein Statement gegen den weithin grassierenden Virtuositätszwang.

Im Tanz Mitte der 1990er-Jahre galt "anything goes". Dabei fristete der Diskurs, anders als in der bildenden Kunst, ein Kellerdasein. Also kam die an Philosophie ausgerichtete konzeptuelle Choreografie, die Jérôme Bel mit einleitete, gerade recht.

Sie bewirkte eine kurze, aber reiche Blüte der theoretischen Reflexion über den Tanz, der bis dahin eher als intellektfeindlich gegolten hatte. Nun, zwei Jahrzehnte später, steht die zeitgenössische Choreografie in einer Vielfalt da, die es noch nie zuvor gegeben hat. Und wieder gilt: "anything goes".

In diesem Umfeld wirkt Jérôme Bel genauso glasklar wie bei seiner Uraufführung: Es spielen Körper und Black Box, Licht, Zeit und Musik. Von den fünf Darstellern bilden zwei ein Hetero-Paar. Claire Haenni und Frédéric Seguette schreiben mit Kreide ihre Namen auf die Bühnenrückwand. Darunter Gewicht, Alter, Kontostände und Telefonnummern.

Das Zeichen als Körper

Untersucht wird - in mehreren sehr genau gesetzten Bildern - der Körper als Daten- und Zeichenträger. Als kultureller Körper, der von Geburt an verwaltet wird, und als Fleisch, das in einem Geldsystem lebt und unzählige Markenwaren konsumiert.

Bei der Haut ist meist Schluss mit der Kenntnis dieses Körpers. Als Hinweis auf dessen verborgene Räume lassen Haenni und Sequette auf der Bühne Wasser. Damit werden die Kreidedaten ge- löscht und verändert. Am Ende steht zu lesen: Eric chante Abba. Der Sprung von Bach zu Pop ist vollzogen. Dieses Stück bestätigt seine Intelligenz, seinen Humor und seine Unangepasstheit, die im Tanz heute nach wie vor Seltenheitswert haben. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 14.8.2014)