Kurt Tucholsky begleitet einen auf Schritt und Tritt bei einer Radreise durch Mittelschweden: zum Beispiel auf Schloss Gripsholm, wo er seine gleichlautende Erzählung ansiedelte.

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Foto: Imagebank Sweden / Mattias Leppaniemi

Von Ondulationen spricht Victoria, die Reiseleiterin mit schwedischen Wurzeln, zur Begrüßung in Stockholm. Das klingt harmlos. In Anbetracht der 100.000 schwedischen Seen denkt der Reisende zu Rad eher an sanfte Wellen, die sich an grünen Ufern brechen. Ein Irrtum, wie sich alsbald herausstellt.

Man kommt ordentlich ins Schwitzen

Schweden ist längst nicht so flach wie erwartet und eine Radrundreise am "Mälardalsleden", also am Radweg entlang des Mälarsees, bietet durchaus Steigungen. Bei der Bezwingung dieser Ondulationen kann man schon ordentlich ins Schwitzen kommen – vor allem in einem skandinavischen Jahrhundert-Sommer wie diesem. Ungeübte Komfort-Radler sollten sich für ein Pedelec entscheiden, mit elektrischer Schubkraft lassen sich die Naturwege hügelauf, hügelab wesentlich besser bewältigen.

Gemälde für Gewöhnliche

Wenn das einmal geklärt ist, kann es losgehen. Die Tour startet von der Stockholmer Altstadtinsel Gamla Stan. Über gut ausgebaute Radwege geht es durch die Vororte der Hauptstadt, bis nach einer guten Stunde Schloss Drottningholm erreicht ist. Die schwedische Königsfamilie zog vor 35 Jahren von Stockholm in den Südflügel des Barockschlosses. Der prächtige Nordflügel und seine Gemäldegalerie sind fürs gewöhnliche Volk und Radtouristen geöffnet.

Ein Landgut mit Kachelöfen-Sammlung

Der Mälarsee mit seinen mit unzähligen Buchten und Fjorden ist der drittgrößte See Schwedens und über Schleusen mit der Ostsee verbunden. Zu Beginn verläuft der Radweg stets in Sichtweite des Sees, der Stockholm mit Trinkwasser versorgt. Später muss man die Fähre nehmen, um das Landgut Sturehov zu erreichen. 1778 erwarb der damalige Finanzminister und Kachelofenfabrikant Johan Liljencrantz den Hof. Heute ist das Gebäude für seine einzigartige Sammlung an Kachelöfen aus dieser Epoche bekannt und im Besitz des schwedischen Staates.

Mit dem "Bscheißerle" bergan

Die Radgruppe macht im Garten des Anwesens unter schattigen Bäumen ihre erste Mittagsrast. Jugendliche befinden sich zwar keine unter den Radlern, doch jung geblieben sind sie alle. Die älteste ist fast 80 und überholt bergauf mit Hilfe der Radbatterie, die sie liebevoll "Bscheißerle" nennt, immer wieder die anderen. Nur Radtourenprofi Victoria ist nicht einzuholen. Sie wird die kommenden sechs Tage und 300 Kilometer an der Spitze der Gruppe radeln – auf einer penibel vom Veranstalter geplanten und daher streng geheimen Route. Rund 50 Kilometer sind das Tagespensum.

Ganz aufs Radeln konzentrieren

Radwege sind in Schweden generell gut ausgeschildert, Individualisten können ihre eigene Route einfach zusammenstellen. Geführte Radreisen bieten allerdings den Vorteil einer professionellen Organisation und größeren Komforts. Die Reisenden können sich ganz aufs Radeln konzentrieren, müssen ihr Gepäck nicht selber transportieren und erfahren einiges über Land und Leute – wie etwa über Södertälje, das es am ersten Tag noch zu erreichen gilt.

Bis es um Mitternacht dämmerig wird

Die Provinzstadt war einst ein wichtiger Handelsknotenpunkt, als Waren noch über den Kanal zwischen Mälarsee und Ostsee kamen. Direkt am See liegt das ehemalige "Torpa Pensionat". Nunmehr dient das alte Mädchenpensionat – liebevoll umgestaltet und verspielt eingerichtet – als Hotel. Das Schönste für Radler nach getaner Stramplerei ist es, hier eine Runde im kühlen See zu schwimmen und danach die weißen Sommernächte auf der Terrasse zu genießen, bis es um Mitternacht dämmerig wird.

Falunrot für alle

Der zweite Tag führt ins "Land der Südmänner", nach Sörmland. Verstreut liegen hier die Höfe mit den typischen roten Holzhäusern. Vor vielen hundert Jahren, so erzählt die schwedische Schriftstellerin Selma Lagerlöf die Geschichte der roten Häuser, habe ein Bauer in der Nähe der heutigen Stadt Falun, sein Vieh auf die Weide getrieben. Einer seiner Ziegenböcke kam jeden Tag mit roten Hörnern zurück. Er folgte ihm und sah, wie der Bock seine Hörner an roten Steinen rieb. Er war auf Kupfererz gestoßen.

Ein Nebenprodukt des Kupferabbaus ist Eisenoxid, und wenn dieses erhitzt wird, zeigt sich die intensive rote Farbe. Bald galt es als Zeichen von Wohlstand, sein Haus rot anzustreichen – es sollte an die Backsteinbauten der reichen Bürger in Mitteleuropa erinnern. „Falunrot“ ist heute eine Farbe, die ebenso für Schweden steht, wie das Gelb und Blau der Landesflagge.

Die kleinste Stadt Schwedens

Die zweite Tagesetappe endet in Trosa, der kleinsten Stadt Schwedens oder am "Ende der Welt", wie der Ort oft spöttisch genannt wird. Bei einem Stadtbummel landet man zwangsläufig im "Masipangarden": Elf verschiedene Sorten Marzipan gibt es in dieser Konditorei, und in den Regalen stapeln sich ungezählte Pralinen in allen Geschmacksrichtungen – immerhin gelten die Schweden als die größten Naschkatzen Europas.

Wer viel radelt, muss sich stärken. Im Idealfall sorgt dafür ein guter Geist wie Matthias: Gepäckbusfahrer, Radmechaniker und Koch. Seine liebevoll angerichteten Picknicks sind eindeutig der Höhepunkt jeder Etappe: täglich frischer Salat, schwedische Spezialitäten wie Elchsalami – und vor allem Hering, immer anders zubereitet.

Bäume, Bäume, Zwischenräume

Gespeist wird an ausgesucht schönen Plätzen wie einem See mit Badesteg, wo schon mal die nette ältere Dame von nebenan auf einen Schwatz und ein Gläschen Cider vorbeikommt. Sie erzählt vom Mittsommerfest, von den Kränzen, die ihre Töchter aus Blumen und Birkenzweigen winden, um sie beim Tanz zu tragen. Die Sommersonnenwende ist nach Weihnachten das zweitgrößte Fest in Schweden.

"Rechts sind Bäume, links sind Bäume, und dazwischen Zwischenräume", schrieb der Wahlschwede Kurt Tucholsky unter seinem Pseudonym Theobald Tiger. Und damit beschreibt er das Herzstück Sörmlands vortrefflich. Hügelauf und hügelab geht’s durch vielfarbiges Grün, hüfthohe Farne, Heidelbeer- und Himbeerstauden durch die Wälder.

Beute und Almosen

Weiter nach Floda. Die recht große Kirche in dem recht kleinen Ort ließ Major Lars Kagg im 17. Jahrhundert erbauen – dank einer großen Beute, die er von den Religionskriegen in Deutschland mitgebracht hatte. Er muss wohl einige Übeltaten auf dem Gewissen haben, denn die Kirche ist prächtig ausgefallen.

Beim Picknick im Schatten der Floda Kyrka kommt der schwedische Botschafter in der Türkei zufällig vorbei. Er ist in Floda aufgewachsen und zeigt seinen Kindern Schweden im Sommer. "Sie sollen wissen, wo sie herkommen", sagt er in perfektem Deutsch. Das Haus neben der Kirche, heute ein Café, erklärt er, war früher das Armenhaus. Die Bauern der Gemeinde hätten den Armen zwei bis drei Prozent ihrer Ernte überlassen. "Und sehen Sie die alte Büchse an der Wand? Da haben die Leute Geld für notleidende Bürger eingeworfen", ergänzt er.

Wo Gustav I. Wasa zum König gewählt wurde

Die Radler werden unterdessen jeden Tags aufs Neue reich beschenkt: Die Tour folgt den Spuren alten Reichtums – an Schlössern mangelt es den Schweden wirklich nicht. Yxtaholm ist dennoch das letzte Schlosshotel auf dieser Reise.

Die vorletzte Etappe führt zunächst in die Kleinstadt Strängnäs. Auf dem Platz vor dem Dom wurde Gustav I. Wasa vom Reichstag zum König der Schweden gewählt. Er war eine zentrale Figur der schwedischen Geschichte. So führte er die erbliche Thronfolge ein und befreite Schweden von Dänemark, außerdem reformierte er die Kirche. Der bekannte Wasa-Lauf ist nach ihm benannt.

Am Grabe Kurt Tucholskys

Nach weiteren 20 Kilometer ist Mariefred erreicht. Schloss Gripsholm, der Schauplatz von Kurt Tucholskys gleichnamigen Roman, steht als Unterkunft leider nicht zur Verfügung, doch vom gegenüberliegendem Hotel Värdshus aus ist es gut zu sehen. Gustav I. Wasa ließ das Schloss 1537 für sich erbauen, danach diente es seinen rivalisierenden Söhnen als Gefängnis. Sie hielten einander abwechselnd in einem der vier Wehrtürme gefangen. Zu besichtigen ist in Mariefred auch Kurt Tucholskys letzte Ruhestätte – die Goethe-Parabel "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis", steht auf seinem Grabstein.

Die ganze süße Palette

Die letzte Tagesetappe führt entlang des Mälarsees gemütlich zurück nach Stockholm. Wer die Süßigkeiten in Trosa ausgelassen hat, bekommt auf Schloss Taxinge noch eine letzte Gelegenheit zum Kosten – hier fehlt wirklich keine schwedische Mehlspeise auf dem Buffet. Woraus Marängtårta, Blåbärsgott, Noussat tårta, Pistagebiskvi, Mandelblomma und die mit grünem Marzipan umhüllte Prinsesstårta bestehen, lässt sich jedenfalls auch ohne Schwedisch-Kenntnisse erraten.

Die Kalorien werden nicht mehr abgearbeitet, denn die letzten 50 Kilometer fahren die Radler mit dem Zug. Sogar Stockholm wirkt jetzt hektisch nach einer Woche im vielschichtigen Grün und an blanken Seen. Schwedische Ondulationen beruhigen ungemein. (Helga Gartner, Album, DER STANDARD, 16.08.2014)