Das Cardboard vollständig zusammengebaut

Foto: Google

Als Bildschirm wird einfach das Android-Smartphone verwendet.

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Die Google Software kümmert sich um die Darstellung der zwei Teilbilder auf dem Smartphone. Durch das Cardboard betrachtet, ergibt sich dann der 3D-Effekt.

Screenshot: Andreas Proschofsky / derStandard.at

Anfang der Neunziger Jahre erlebte die Vision einer "Virtual Reality" ihre erste Hype-Phase. Nachrichtenbeiträge widmeten sich diesem Thema zuhauf, Hollywood-Filme wurden mit kreativen Implementationen dieser Idee angereichert. Das Durchforsten einer vollkommen computergenerierten, dreidimensionalen Welt regte also schon damals die Fantasie der Massen an. Und doch konnten sich die damaligen Virtual-Systeme nicht durchsetzen. Zu umständlich, zu teuer und auch oft grafisch zu wenig überzeugend waren sie.

Neuauflage

Gut zwei Jahrzehnte später erlebt die virtuelle Realität nun eine Art zweiten Frühling. Allen voran Hardwarehersteller Oculus VR hat mit seinen 3D-Brillen das Interesse der Industrie neu angefacht. Billiger, einfacher und vor allem grafisch wesentlich überzeugender soll die neue Hardwaregeneration sein. Die Basis für einen Erfolg scheint also gelegt. Insofern war es nicht gar so überraschend als Facebook vor einigen Monaten die Übernahme von Oculus VR verkündete - und das zu einem stolzen Preis von zwei Milliarden US-Dollar.

DK2

Eine Version des "Oculus Rift" getauften Virtual-Reality-Sets für den Massenmarkt gibt es bislang noch nicht, ist das aktuelle Modell DK2 doch ganz auf Entwickler ausgerichtet. Um rund 350 US-Dollar ist so ein Developer Kit aber schon mal um Welten billiger als die Hardware der Neunziger-Jahre.

Exemplarisch

Und doch dachten sich zwei Mitarbeiter des Google Cultural Institute in Paris, dass das noch erheblich billiger gehen müsste. Also machten sie sich in ihrer "20-Prozent-Zeit" daran, eine Low-Cost-Alternative zu entwickeln. Das Resultat präsentierte man vergangenen Sommer auf der Google I/O und konnte dort für verblüffte Gesichter sorgen. Handelt es sich bei Cardboard doch um ein voll funktionstüchtiges Virtual-Reality-Set zu einem Materialpreis von wenigen Euro.

Smartphone-Basis

Die Grundidee: Ein aktuelles Smartphone liefert bereits so ziemlich alles, was man für ein Virtual-Reality-Set benötigt. Von den diversen Lagesensoren bis zu einem hochauflösenden Bildschirm ist der allergrößte Teil der benötigten Hardware bereits vorhanden. Also bedarf es eigentlich nur mehr einer passenden Hülle.

Faltspiele

Ein Konzept, dessen sich zwischenzeitlich auch Samsung mit seinem Gear VR bedient, das Google aber preislich nochmal deutlich unterbietet. So verwendet Cardboard - dem Namen entsprechend - schlicht einen Karton als Material, der mit einem Laser zugeschnitten wird, und leicht in die fertige Form gefaltet werden kann. Alles was noch hinzukommt, sind zwei Linsen um die vom Bildschirm gelieferten 3D-Bilder richtig wiederzugeben, ein paar Gummibänder, Klettverschlüsse sowie ein Magnet, der als Knopf zur Steuerung dient. All dies verteilte Google als fertiges Set zunächst an alle Teilnehmer der Google I/O, seitdem wurden aber bereits mehr als 500.000 Stück des Cardboards verteilt.

Eigenbau

Zusätzlich wurden aber auch die Baupläne sowie eine Liste der verwendeten Einzelteile veröffentlicht, um Dritten den Nachbau zu ermöglichen. Wer will, kann sogar eine Pizzaschachtel als Ausgangsmaterial nutzen, stellt Google in den FAQs scherzend fest - was natürlich sofort so mancher Bastler als direkte Aufforderung interpretierte.

Angebote

Das Interesse an Cardboard hatte man dabei offenbar stark unterschätzt, die empfohlenen Linsen waren jedenfalls rasch ausverkauft. Mittlerweile hat sich aber glücklicherweise nicht nur die diesbezügliche Situation gebessert, es gibt auch zahlreiche Anbieter, die Cardboard-Nachbauten als fertige Sets verkaufen. Optimal für all jene, die sich die nicht selbst alles zusammentragen wollen, und bereit sind irgendwo zwischen 5 und 30 Euro in ein fertiges Set zu investieren.

Zusammenspiel

Prinzipiell funktioniert Cardboard mit vielen aktuellen Smartphones, so sie denn von den Abmessungen in die Box passen. Als offiziell getestet listet Google die eigenen Smartphones Galaxy Nexus, Nexus 4 und Nexus 5 sowie das Moto X und das Galaxy S4 / S5. Zusätzlich gibt es natürlich noch die Möglichkeit eine angepasste Version des Cardboards zu basteln, so kursieren denn auch bereits diverse Varianten des Bauplans im Netz. Einige der inoffiziellen Anbieter haben ebenfalls bereits größere Varianten des Kartonsets gelistet.

Funktionalität

Passend dazu gibt es eine offizielle App von Google, die in einer Reihe von Demos die Möglichkeiten des Systems eindrucksvoll vorzeigt. Damit lässt sich dann auf Google Earth über das Matterhorn fliegen, wobei durch Drehen des Kopfes frei in der Gegend herumgeblickt werden kann - wie es eben von einem Virtual-Reality-Set zu erwarten ist. Besonders beeindruckend ist die 3D-Animation "Windy Day", bei der die Zuseher quasi selbst die Kameraführung übernehmen.

Angebot

Dazu kommen noch eine Street-View-Rundfahrt, ein virtueller Reiseführer, eine Youtube-Wand, sowie die Möglichkeit eigene Photospheres dreidimensional zu betrachten. Alles Dinge, die bei Personen, die Cardboard zum ersten Mal nutzten, durchaus einen Wow-Effekt auslösen. Zusätzlich gibt es eine Reihe von Cardboard-Experimenten für Google Chrome, die verdeutlichen, dass sich Virtual-Reality-Anwendungen auch für das Web entwickeln lassen - und nicht minder beeindruckend sind.

Entwicklung

Apropos: Parallel zur Vorstellung von Cardboard hat Google auch gleich ein Software Development Kit veröffentlicht, mit dem sich eigene Apps entwickeln lassen. Die Google-APIs übernehmen dabei automatisch einen großen Teil der Arbeit, wie die Bewegungserkennung oder die korrekte Berechnung und Verzerrung der zwei Teilbilder. Mit Codebeispielen soll in die Entwicklung eingeführt werden, zudem gibt es eine Google+ Community in der Gleichgesinnte nach Rat gefragt werden können.

Dritt-Apps

Zwischenzeitlich wurden auch bereits einige Apps für Cardboard entwickelt beziehungsweise bestehende Virtual-Reality-Anwendungen oder Spiele entsprechend angepasst. So gibt es etwa mit Tuscany Dive, Refugio 3D Space Station oder auch Shadowrun VR einige gut gemachte Demos. Vieles davon ist eine Art Vorgeschmack auf künftige Spiele, die dann einmal in Kombination mit einem externen Controller zu steuern sein sollen. Wer will kann aber auch VRTube anwerfen und damit 3D-Videos von Youtube durch das Cardboard betrachten.

Optisches Erlebnis

Google Maps bietet mittlerweile ebenfalls bereits einen eigenen Cardboard-Modus, um Street View-Aufnahmen dreidimensional durchforsten zu können. Zudem gibt es die Möglichkeit quasi hautnah bei einem Konzert von Jack White oder Paul McCartney dabei zu sein. Und natürlich darf auch das Auenland aus "Der Hobbit" und "Herr der Ringe" virtuell erforscht werden.

Fazit

Klar: Cardboard ist derzeit vor allem eine Spielerei, die mit der Qualität - oder den Möglichkeiten - von Systemen wie Oculus Rift nicht mithalten kann. Allerdings eine die mit ihrem extrem niedrigen Einstiegspreis zum Experimentieren geradezu einlädt. Und sei es auch nur, um herauszufinden, wie man selbst auf solche virtuelle Welten reagiert - im Test wurde so manchen Probanten bei der Nutzung nämlich recht bald einmal schlecht.

Offene Fragen

Bei dem niedrigen Preis kann auch verziehen werden, dass derzeit vollkommen unklar, ob aus Cardboard je ein "richtiges" Produkt von Google wird, oder ob das Ganze von Anfang an mehr als bissiger Kommentar zu Facebooks Zwei-Milliarden-Dollar-Investment gedacht war. Im Endeffekt ist dies aber ohnehin sekundär, die Aussage bleibt die Gleiche: Virtual Reality ist heutzutage mit minimalen Kosten umsetzbar. Die Zukunft dürfte in dieser Hinsicht also noch einige spannende Entwicklung zu bieten haben. (Andreas Proschofsky, derStandard.at, 04.01.2015)