Schriftsteller mit Bart und großen Egos: Jonathan Pryce (li.) und Jason Schwartzman in Alex Ross Perrys "Listen Up Philip".

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Der philippinische Regisseur Lav Diaz in Locarno.

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Auf den Regen war dieses Jahr in Locarno Verlass. Meistens schlich er sich nachts heran, dann goss es in Strömen und hörte bis in den Vormittag hinein nicht mehr auf. Festivaldirektor Carlo Chatrian sprach allerdings nicht aufgrund des Wetters, sondern wegen der Absage von Roman Polanski von einem schwarzen Tag. Die im Vorfeld des Festivals geäußerte Kritik an der Auszeichnung des Regisseurs hatte diesen kurzfristig dazu bewogen, daheimzubleiben. Eine Blamage für das Festival, das sich so gern weltoffen positioniert – Polanski wurde wieder einmal zum Politikum.

Gekommen sind allerdings viele andere Alt-Stars wie Agnès Varda, Mia Farrow oder gleich zu Beginn Melanie Griffith – jeden Tag wird ein gesponserter Ehren-Preis vergeben. Der ebenfalls geehrte Armin Mueller-Stahl musste deshalb auf der Bühne einen Vergleich seiner Karriere mit einem Uhrwerk erdulden.

Im Wettbewerb tickte man anders. Hier herrscht eine bewährte Diversität an Formen und Zugangsweisen. Die Auffassung darüber, welche Stile das zeitgenössische Kino bestimmen, ist im Tessin breiter als auf anderen Festivals: Mit The Iron Ministry lief etwa ein weiterer starker Dokumentarfilm aus dem Umfeld des Harvard Sensory Lab (Leviathan) in Konkurrenz.

Der amerikanische Anthropologe J.P. Sniadecki porträtiert darin den Riesen China, indem er Zug fährt – in verschiedenste Richtungen und in diversen Klassen, was zu entsprechend mannigfaltigen Begegnungen führt. Im Endschnitt wurde daraus ein einziger Zug – ein Fortbewegungsmittel, das einmal für das Bild des „Fortschritts“ stand; bei Sniadecki gibt es dieses unbedingte Vorwärtsmotiv nicht mehr, er hält die Mutationen des Landes genauso fest wie dessen Renitenz gegenüber Veränderungen.

Lav Diaz, dessen Film schon zu Beginn des Festivals lief, wurde von der Jury am Samstag mit dem Goldenen Leoparden prämiert. Das ist schon deshalb eine erfreuliche Wahl, weil es den mit fast sechs Stunden Länge schwierig verwertbaren Film zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen wird. In From What is Before rekonstruiert Diaz Erinnerungen an die eigene Kindheit in einem Dorf in Mindanao. Mit viel Beobachtungssinn lässt er eine Kultur wiederauferstehen, die unter der Gewaltherrschaft von General Marcos marginalisiert, fast ausgelöscht wurde. Diaz’ Epos ist das Gegenteil von Ausstattungskino, ein bitterer Film in regennassen Bildern, dem auch etwas Gespenstisches zu eigen ist in der Art, wie darin die Angst der Menschen noch vor den eigentlichen Taten greifbar wird.

Der Portugiese Pedro Costa war der zweite Liebling der Cinephilie im Wettbewerb. Entsprechend große Erwartungen wurden an Cavalo Dineiro (Horse Money) geknüpft: Costa kehrt darin zurück zu Ventura, dem kapverdischen Mann aus seinem letzten Film Juventude em marcha. Ventura wird mittlerweile in einer verlassenen Klinik an einem Nervenleiden behandelt. Der Schauplatz ist freilich nicht ganz von dieser Welt, für den unter Gedächtnislücken leidenden Mann kommt er einem fantastischen Raum gleich, in dem die Geschichte stillsteht. Der einst aus Fontainhas von Soldaten Vertriebene wird von traumatischen Erinnerungen heimgesucht.

Costa setzt in Cavalo Dineiro einiges an Vorwissen voraus, radikal ist auch die Langsamkeit des Films. Die statuarischen Bilder werden in einer Musiksequenz einmal motivisch verknüpft. Kompositorisch sind diese Szenen durchwegs beeindruckend, sie gleichen nachtdunklen Gemälden, Lichtkegel schälen die Gesichter heraus, während sich die restliche Welt in Weitwinkel krümmt. Beklemmend ist auch jenes längere Stück, in dem Ventura in einem Lift auf eine Soldatenfigur trifft, die wie aus einem Denkmal herausgelöst wirkt – zwei Vergessene der Geschichte, die Costa hier miteinander ins Gespräch bringt.

Egomanie und Vermarktung

Die Jury würdigte Costa mit dem Regiepreis. Von den jüngeren Autoren schafft es der US-Amerikaner Alex Ross Perry aufs Podest (Spezialpreis der Jury), der mit Listen Up Philip schon in Sundance viel Anerkennung gefunden hat. Der Film ist eine so ambitionierte wie bewundernswert vielschichtige Auseinandersetzung des erst 30-Jährigen mit den Ansprüchen schöpferisch tätiger Menschen, ihrer Egomanie und den Erfordernissen eines immer dreister werdenden Marktes.

Jason Schwartzman spielt den aufstrebenden Schriftsteller Philip Lewis Friedman, keine wirklich sympathische, sondern eine obsessiv um sich selbst kreisende Figur. Kritik an seinen Mitmenschen äußert er am liebsten direkt – und oft. Immerhin weigert er sich, sein Buch zu promoten und nimmt stattdessen die Einladung von Ike Zimmerman an, ihn auf seinem Landhaus zu besuchen; Zimmerman, ein an Philip Roth und Norman Mailer erinnernder Starautor, großartig von Jonathan Pryce verkörpert, wirkt wiederum wie eine ältere, ähnlich selbstsüchtige Ausgabe von Friedman.

Literarisch ist nicht nur das Milieu von Listen Up Philip, sondern auch die Erzählweise. Alex Ross Perry leistet sich einen von Eric Bogosian gesprochenen Off-Erzähler und unterschiedliche Perspektiven, die den Film wie Kapitel strukturieren. Eine davon widmet sich etwa Ashley (Elizabeth Moss), der Freundin des Jungdichters, die sich seinen Allüren immer mehr zu entziehen beginnt. Der Tonfall des Films bleibt indes der einer klugen, mit sarkastisch-pointierten Dialogen versetzten Komödie – der Stoff, aus dem Romane sind, ist bei Alex Ross Perry eine Fundgrube für menschliche Eitelkeiten. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 18.8.2014)