Er bewundere den Mythologen Joseph Campbell, erklärt der graumelierte Mann mit der Fotokamera, während er in New York Models für Straßenaufnahmen anspricht. Doch er habe zu Campbells Forderung, seinen Träumen zu folgen, für sich ergänzt: Wer den amerikanischen Traum verwirklichen will, müsse auch bereit sein, den Albtraum zu erleben.
Deshalb zählt für den Fotografen Mark Reay nur der Augenblick. Nur wenige seiner unzähligen Bilder sind gut genug, um sie zum Verkauf anzubieten. Dass er sich zwischendurch als Statist für Filmproduktionen verdingen und im Winter ein Weihnachtsmann-Kostüm überziehen muss, scheint ihn nicht zu stören. Denn seit er alle Erwartungen an die Zukunft habe fallenlassen, mache ihm seine Art zu leben sogar Spaß. "Ich habe viel erlebt, aber nicht viel erreicht", meint er und steigt auf ein Dach mit Blick auf die Skyline von Manhattan, wo er sich unter einer Plastikplane notdürftig eine Schlafstelle eingerichtet hat. Die gesamte Modeszene scheint Mark zu kennen, seine andere Existenz aber ist sein großes Geheimnis.
Zwei Jahre lang hat der österreichische Filmemacher Thomas Wirthensohn den eloquenten Überlebenskünstler begleitet, und tatsächlich gibt es kaum eine Szene in Homme Less, die dieser gnadenlose Selbstdarsteller nicht für sich beanspruchen würde. Das Ergebnis ist ein Film, der sich wie sein Protagonist zwischen Anpassung und Widerstand bewegt, indem er die Faszination von Reichtum und Schönheit buchstäblich vor Augen führt und ihr zugleich zu erliegen droht.
Dass Homme Less ausgerechnet das zum zweiten Mal stattfindende Filmfestival von Kitzbühel eröffnet, eine bunte Filmschau mit einigen Österreichpremieren, hat zwar keinen programmatischen Hintergrund, könnte aber als scharfsichtiger Kommentar betrachtet werden: In mancher Hinsicht liegen nämlich nur scheinbar Welten zwischen Manhattan und Tirol. (pek, DER STANDARD, 19.8.2014)