Wien – Es kommt auf die Größe an, stellt Andreas Böhm, Vorsitzender des Schöffensenats, klar. Auf die Größe der Menschenmenge nämlich, die es braucht, damit aus Ausschreitungen bei einer Demonstration auch ein Landfriedensbruch wird. Und zehn, fünfzehn Randalierer sind dafür eindeutig zu wenig.

Staatsanwalt Hans-Peter Kronawetter hat Hüseyin S. wegen dieses Deliktes angeklagt. Dazu kommen schwere Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Die drohende Maximalstrafe für den unbescholtenen 43-Jährigen: drei Jahre Haft.

Es geht um drei Vorfälle. Im Jänner soll S. bei der Demo gegen den Akademikerball beim Burgtheater mit seiner Fahnenstange auf eine Polizistin eingeschlagen haben, die dadurch Prellungen und blaue Flecken erlitt.

Rädelsführer bei Gewaltaktionen

Im Mai soll er laut Kronawetter als Rädelsführer bei den Protesten gegen den Marsch der rechten Identitären tätig geworden sein und Steine auf Polizisten geschmissen haben. Und ebenfalls im Mai soll er schließlich nach den Protesten gegen das "Fest der Freiheit" der Burschenschafter bei seiner Festnahme einen Beamten, wiederum mit einer Fahnenstange, verletzt haben.

Zu den ersten beiden Taten bekennt er sich schuldig. Was vernünftig ist, schließlich gibt es von den Attacken Videos, auf denen er klar zu erkennen ist. Beim dritten Fall bestreitet er die Körperverletzung, es sei ein Gerangel gewesen.

Für Verteidigerin Nadja Lorenz ist das Verfahren "ein politischer Prozess". Nicht wegen der eingestandenen Körperverletzung, "das sind Aktionen, die nicht zu rechtfertigen sind. Dazu steht er und es tut ihm leid."

Bei friedlicher Demo marschiert

Der Landfriedensbruch ist ihr ein Dorn im Auge. Denn: Bei der Anti-Akademikerball-Kundgebung sei ihr Mandant nicht mit der Gruppe mitmarschiert, die in der Innenstadt randaliert hat, sondern mit einer zweiten, weitaus größeren und friedlichen Demonstration.

Die habe aber nicht Ausschreitungen zum Ziel gehabt, sondern demokratischen Protest. Nur eine Handvoll Menschen habe am Ende die Polizei attackiert. Wenn unter diesen Umständen schon eine Demoteilnahme für eine Anklage reiche, "werde ich meiner Tochter raten müssen, zu keiner Demonstration mehr zu gehen".

Den Vorsitzenden Böhm interessiert das Motiv des Angeklagten. "Ich bin in der Türkei zehn Jahre wegen politischer Delikte in Haft gesessen", sagt dieser. Als politisch Verfolgter bekam er in Österreich Asyl, auch hier kämpfe er "gegen Faschismus und rechte Umtriebe".

Reflexartig zugeschlagen

Böhm will konkretere Aussagen zu dem Vorfall vor dem Burgtheater. "Es war eine friedliche Sitzdemo. Dann sind alle aufgestanden und es hat ein Tohuwabohu gegeben, da die Polizei Pfefferspray eingesetzt hat." Worauf er "reflexartig dreimal auf die Polizeikette eingeschlagen" habe.

Reflexartig seien auch die Steinwürfe gegen die Polizei beim Protest gegen die Identitären gewesen. Nach der ruppigen Auflösung eines Sitzstreiks sei die Situation eskaliert, die Polizei habe Teilnehmer festgenommen und auch Pfefferspray eingesetzt.

"Es waren Schreie zu hören. In dem Moment habe ich einen Stein in die Hand genommen und geworfen. Es war ein Reflex", sagt der Angeklagte. "Sie sollen mit dem 'reflexartig' aufhören. Das ist ja ein Blödsinn", murrt Böhm. "In dem Moment habe ich an nichts gedacht, sondern nur agiert", hört er darauf. "Dann haben Sie ein psychisches Problem, wenn Sie etwas machen, ohne zu denken."

Parolen auf Türkisch

Rädelsführer eines Landfriedensbruchs sei er aber sicher nicht gewesen, beteuert S. Er habe lediglich auf Türkisch Parolen skandiert, aber niemandem Angriffsbefehle erteilt.

Bei seiner Festnahme in einer U-Bahn-Station schließlich sei es zu einem Tumult gekommen, absichtlich attackiert habe er aber keinen der Polizisten.

Unterstützer von S. haben das Polizeivideo dieses Vorfalls in Standbilder zerlegt und Verteidigerin Lorenz zur Verfügung gestellt. Und dort ist tatsächlich nichts von einer vom Polizisten beschriebenen Stoßbewegung mit einer Fahnenstange zu sehen.

Dazu kommt, dass ein zweiter Beamte die Situation anders schildert und seine eigene Verletzung – ein nach hinten gebogener Finger – faktisch nicht so zustande gekommen sein kann, wie er es beschreibt.

Demonstrant versus Gewalttäter

Staatsanwalt Kronawetter bleibt in seinem Schlussplädoyer dabei: Es war Landfriedensbruch, da die im Gesetz angeführte "Menschenmenge" zahlenmäßig nicht definiert sei. "Vor uns sitzt kein friedlicher Demonstrant, vor uns sitzt ein Gewalttäter", stellt er seine Sicht klar.

Nach kurzer Beratung folgt der Senat allerdings der Argumentation der Verteidigung. S. wird wegen schwerer Körperverletzung und Widerstands gegen die Staatsgewalt zu sechs Monaten bedingt verurteilt. Vom Vorfall in der U-Bahn und dem Landfriedensbruch wird er dagegen freigesprochen.

Böhm stützt sich in seiner Urteilsbegründung auf das Geständnis und die Videos. Auf denen ist zu sehen, dass nur einige wenige Randalierer die Polizei attackieren. "Für einen Landfriedensbruch benötigt man aber eine große Menschenmenge, die vom gleichen Ziel getragen werden."

Freispruch im Zweifel

Das seien aber um die 100 Personen und nicht zehn bis 15 Angreifer wie in diesem Fall. Bei beiden Demonstrationen sei der überwiegende Teil der Teilnehmer friedlich gewesen. In der U-Bahn sei es zwar ein Freispruch im Zweifel, aber das Video habe tatsächlich nichts bewiesen, der Widerstand bei der Festnahme selbst sei passiv gewesen.

Während Lorenz und S. das Urteil freudig annehmen, macht der Ankläger nicht von seinem Recht Gebrauch, sofort eine Entscheidung zu fällen, sondern gibt keine Erklärung ab. Somit ist das Urteil nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, derStandard.at, 18.8.2014)