In der Schachnation Russland wird der Konflikt mit dem Westen um die Ukraine als Schachpartie verstanden, bei der mit der Einführung der wechselseitigen Sanktionen die ersten Züge ausgetauscht wurden. Um die eigene Wirtschaft einer weiteren Fesselung zu entziehen, hat sich der Kreml nun auf die Weisheit von Schachgroßmeister Saweli Tartakower besonnen: "Die Drohung ist stärker als die Ausführung."

Unter diesem Motto berichteten jedenfalls russische Medien über in Moskau bereitliegende Sanktionslisten gegen die EU und die USA. Unter den möglichen Restriktionsmaßnahmen sei ein Verbot für den Import von Autos, wird ein nicht genannter Regierungsvertreter zitiert. "Weitere Sanktionen sind aber nur möglich, wenn die EU und die USA ihre Sanktionen gegen uns verschärfen", fügte er hinzu, was darauf hindeutet, dass die Information über Gegenmaßnahmen gezielt gestreut wurde, um den Westen von weiteren Schritten abzuhalten.

Auch der Auftritt Wladimir Putins am Montag im Fernsehen zusammen mit dem Chef der Zollbehörde Andrej Beljaminow zielte darauf ab, Stärke zu demonstrieren. Bei der Durchsetzung des Lebensmittelembargos gebe es keine Probleme, rapportierte Beljaminow dann auch.

Unterdessen gibt es offenbar in einigen europäischen Landwirtschaftsverbänden Bemühungen, das Embargo über Lateinamerika, mehrere Balkanstaaten oder die Schweiz zu umgehen. Die Alpenrepublik hat die sektoralen Sanktionen der EU gegen Russland nicht in vollem Umfang mitgemacht und wurde von Moskau deswegen auch nicht auf die schwarze Liste gesetzt.

Inoffizielle Anfragen

Laut der Kreml-nahen Tageszeitung "Iswestija" haben in der vergangenen Woche mehrere Organisationen beim Schweizer Bundesamt für Landwirtschaft nachgefragt, welche Möglichkeiten es gebe, ihre Produkte in der Schweiz zu zertifizieren. Konkrete Namen und Länder werden nicht genannt. Interesse soll es aber insbesondere bei Molkereibetrieben geben.

Die Registrierung sei allerdings aufwändig und kompliziert, heißt es in der Behörde. Unter anderem seien dafür eine Reihe tierärztlicher Kontrollen nötig, wird der stellvertretende Leiter der Wirtschaftsabteilung in der Schweizer Botschaft Tadzio Schilling vom Blatt zitiert. Schilling war am Montag für weitere Kommentare nicht zu erreichen. Überdies verweist AMA-Marketingchef Michael Blass auf den Umstand, dass eine einfache "Umetikettierung" rechtlich nicht möglich sei. Die Verarbeitungsschritte in der Schweiz oder in anderen Drittstaaten müssten so erheblich sein, dass damit eine Veränderung des Ursprungslandes verbunden sei. Neben den veterinärrechtlichen Aspekten sei überdies der zeitliche Aufwand zu berücksichtigen. "Das lohnt sich in der Regel nicht," sagt Blass im Gespräch mit dem Standard. Überdies hat die Schweiz zugesagt, reine Umgehungen nicht akzeptieren zu wollen.

Wirtschaftsexperte Maxim Worobjow verweist zudem darauf, dass allfällige Umgehungen auch die russischen Behörden passieren müssten. "Wir verstehen sehr gut, welche Waren tatsächlich in der Schweiz hergestellt werden können", sagte er. Doch Löcher im Importverbot gebe es durchaus, fügte er hinzu. Das Sicherste wäre es, einen Teil der Verarbeitung in die Schweiz auszulagern.

Zuverdienst

Laut Wladimir Katenew, dem Präsidenten der Handelskammer von St. Petersburg, lohnt sich die Prozedur allerdings nur für große Russland-Exporteure, ansonsten sei der Aufwand für Logistik und Papierkram zu hoch. Zumal die russischen Zöllner die Waren an der Grenze trotzdem stoppen können – und sei es auch nur, um sich selbst einen Zusatzverdienst zu sichern.

Doch nicht nur von europäischer Seite gibt es Interesse. Auch russische Lebensmittelimporteure suchen nach einer Möglichkeit, die zusammengebrochene Lieferkette mit dem Zwischenglied Schweiz wieder zusammenzufügen. Logistisch sei dies immer noch günstiger als der Import von Milch, Fisch, Fleisch und Käse aus dem fernen Südamerika. Schon jetzt gibt es in Russland Klagen über eine Verteuerung von Lebensmitteln, obwohl die russische Regierung versichert hat, Preisspekulationen rigoros zu unterbinden. Auf einer vom Kartellamt eingerichteten Hotline gingen innerhalb weniger Tage rund 170 Klagen über Preisaufschläge ein. In den meisten Fällen ging es um Fleisch, mit dem sich Russland nur zu einem geringen Teil selbst versorgen kann.

Wie auch immer die rechtliche Dimension aussieht: Beobachter gehen davon aus, dass gewisse Waren bei entsprechender Nachfrage immer Wege zum Konsumenten finden. Ob illegal oder über komplexe Reimporte – gerade bei hochpreisigen Delikatessen seien die Spannen hoch genug, um die Kosten für diverse Umwege finanzieren zu können.

Gratwanderung Berns

Die Schweiz arbeitet indes selbst an einem Maßnahmenpaket, um die Umgehung von EU-Sanktionen gegen Russland zu verhindern. Eine entsprechende Verordnung gibt es zwar schon seit rund einem halben Jahr, allerdings enthielt sie Unschärfen. Damit scheint Bern auf Kritik aus der Union zu reagieren. Laut der Schweizer Agentur sda erklärte Christian Nünlist, Forscher am Centre for Security Studies in Zürich, dass die Haltung des Landes dazu beitrage, dass Russland die OSZE unter Schweizer Präsidentschaft als unparteiische Brückenbauerin wahrnehme.

In eher symbolischen Akten hat das Land die russische Fliegerstaffel "Russian Knights" für eine Flugschau ausgeladen. Nationalratspräsident Ruedi Lustenberger wiederum sagte ein geplantes Treffen mit dem Präsidenten der russischen Staatsduma ab. Dieser befindet sich auf der Sanktionsliste der EU. (André Ballin aus Moskau Andreas Schnauder, DER STANDARD, 19.8.2014)