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Die Kette Walmart versinnbildlicht den amerikanischen Traum und Albtraum gleichermaßen. George Packers Sachbuch "Die Abwicklung" beschreibt beides so spannend wie ein Roman.

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Journalist und Bestsellerautor George Packer.

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Wien - Um das Elend hunderter verödeter Kleinstädte zwischen den Küsten zu erklären, braucht George Packer nur sechs Seiten. Auf diesen beschreibt er das Leben und Wirken des Sam Walton. Der hat als Gründer der Kaufhauskette Walmart den Einzelhandel in den USA weitgehend vernichtet. Es ist die Geschichte eines Self-Made-Milliardärs im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Nach Waltons Tod 1992 besaßen seine sechs Erben so viel Geld wie die unteren 30 Prozent aller Amerikaner.

Deren Erbe sieht ungleich trister aus. Es besteht meist aus schlecht bezahlten Teilzeitarbeitsplätzen in verarmten Gemeinden ohne Zusammenhalt, in denen die Bewohner weitgehend aussichtslos um den Klassenerhalt kämpfen. Das Versprechen, dass jede und jeder es schaffen kann, wenn sie oder er nur hart genug arbeitet, wurde dort längst als Lüge überführt. Zu wenig von dem Geld, das ein Riese wie Walmart den Leuten aus den Taschen zieht, bleibt in ihren Städten. Das Resultat: Sie verkommen.

Der große amerikanische Roman des 21. Jahrhunderts ist im Moment ein 500 Seiten dickes Sachbuch mit dem Titel Die Abwicklung - Eine innere Geschichte des neuen Amerika. Aufgezeichnet hat diese Geschichte der Journalist George Packer. Seit seinem Erscheinen 2013 steht Die Abwicklung in den Bestsellerlisten, nun auch die deutsche Übersetzung von Gregor Hens.

Anhand von 14 Biografien beschreibt Packer eine Gesellschaft, die sich immer stärker gegen ihre Bestandteile wendet: die Menschen. Einige davon sieht sich Packer genauer an. Da gibt es elf Porträts von der vermeintlichen Gewinnerseite, von Unternehmern wie Sam Walton, von Rapper Jay-Z, der Talkmasterin Oprah Winfrey, von Politikern wie Newt Gingrich oder Colin Powell. Von Menschen, die es im System zu etwas gebracht oder es verändert haben.

Zwei verschiedene Babys

Die Nüchternheit, mit der Packer zu Werke schreitet, ist seine stärkste Waffe, die journalistische Klarheit seiner Sprache eine zweite. Überzogene Wertungen verbietet er sich. Derlei Attitüde ist gar nicht notwendig. In den meisten Fällen muss Packer nichts anderes tun, als seine Sujets sachlich abzubilden, um klarzumachen, warum sie Teile des Problems und nicht der Lösung sind.

Kaum einer davon ist sich dessen bewusst. Lediglich Colin Powell zeigt (zu spät) Einsicht. Der General war Außenminister unter George W. Bush und einst der beliebteste Politiker der USA. Während Bush zu Beginn des Irakkriegs verlautbaren ließ, er schlafe wie ein Baby, sagte Powell: "Ich schlafe auch wie ein Baby, alle zwei Stunden wache ich auf und habe einen Heulkrampf."

Auf der anderen Seite erzählt Packer die Geschichten von Dean Price, Tammy Thomas und Jeff Connaughton. Ein erfolgloser Unternehmer, eine schwarze Fabrikarbeiterin aus einer sterbenden Stahlstadt, die Sozialarbeiterin wurde, und ein frustrierter Politikberater, der zwischen Privatwirtschaft und Washington sein Glück sucht.

Es sind die Geschichten integrer, idealistischer Menschen, die sich von der Wirklichkeit hart und härter geprüft wiederfinden. Sie tragen weite Strecken des Buches. Ihren Überlebenskampf misst Packer am amerikanischen Traum sowie an den verfassungsmäßig garantierten Rechten seiner Mitbürger. Der Verweis auf die Verfassung nimmt gleichzeitig den Vorwürfen des Antiamerikanismus von konservativer Seite den Wind aus den Segeln.

Packer, Jahrgang 1960, hält seinem Land den Spiegel vor das Gesicht. Dieses zeigt sich ihm zerfurcht von Gier und befallen von der Angst, Erreichtes wieder zu verlieren. Und das kann schnell gehen, das zeigte das Platzen der US-Immobilienblase, die zu unser aller Dauerkrise geworden ist.

Packer beschreibt die Machenschaften der Banken und ihre mafiosen Verstrickungen mit der Politik, er beschreibt, wie Regulierungsgrundsätze zwischen Wirtschaft und Politik rück- oder abgebaut wurden. Und wie sich das für alle auswirkt.

Dennoch verkommt Die Abwicklung an keiner Stelle zur Lektüre über schnöde Wirtschaftspolitik. Im Gegenteil. Packer beschreibt mitreißend spannend, wie ein aggressiver Kapitalismus in den USA die gesellschaftliche Balance verändert. Wie enttäuschte Bürger in den Fängen von Rupert Murdochs Fox Medien und der Tea Party landen, deren Ansichten sie einige Jahre zuvor noch kopfschüttelnd abgelehnt hätten.

Und auch unter Präsident Barack Obama ist deren Zahl nicht geringer geworden: "2008, im Wahlkampf, hatten sich die Wähler unter change etwas anderes, Radikaleres vorgestellt als den Erhalt des Status quo." (Karl Fluch, DER STANDARD, 20.8.2014)