"Eating with the Chefs" - ein Sittenbild in Form eines Kochbuchs

Foto:Per Anders Jörgensen, Phaidon 2014

Ein Kellner in Massimo Botturas "Osteria Francescana (Modena): Pasta aus der Hand des Meisters

Foto:Per Anders Jörgensen, Phaidon 2014

Per-Anders Jörgensen, "Eating with the Chefs". € 51,99, 296 Seiten, Phaidon 2014. www.phaidon.com

Foto:Per Anders Jörgensen, Phaidon 2014

Seine Restaurants in der Wiener Innenstadt sind längst wieder voll, den Rauswurf eines Kellners wird Mario Plachutta aber noch länger nicht vergessen: Zu nachhaltig war die Erregung in Medien und sozialen Netzwerken, nachdem Plachutta den Mann fristlos entlassen hatte, weil dieser selbst mitgebrachte Erdbeeren mit plachuttaeigenem Zucker zu süßen wagte. Dass die Fristlose vor Gericht nicht hielt und Plachutta verurteilt wurde, soll dem Betroffenen ein Trost gewesen sein.

Die Geschichte wirft aber ein interessantes Schlaglicht auf eine Branche, in der höchster Einsatz und überlange Arbeitszeiten weithin als normal vorausgesetzt werden. Manche Unternehmer hindert das nicht, ihre Personalprobleme "der verlotterten Gesellschaft" im Allgemeinen zuzuschreiben und Jobbewerber pauschal als "unbrauchbare Analphabeten" (beides Plachutta-Zitate) abzuqualifizieren.

Andere Form des Ansporns

Da wundert es kaum, wenn die Identifikationsbereitschaft der Angestellten schneller den Plafond erreicht als anderswo. Dabei ist es nicht so, dass die Gastronomie generell ein Hort des Ausbeuterkapitalismus wäre: Engagierte Unternehmer zeigen vor, wie man Mitarbeitern, von denen neben sozial wenig kompatiblen Arbeitszeiten jede Menge Begeisterung, Mitdenken, Einsatz und Loyalität erwartet werden (wohlgemerkt bei mittelprächtiger Bezahlung), andere Formen des Ansporns bieten kann.

Neben einer fundierten Ausbildung und dem Renommee, für ein richtig gutes, vielleicht sogar stilbildendes Haus gearbeitet zu haben, neben entsprechenden Aufstiegsmöglichkeiten und der Bildung eines - oft lebenslang wirksamen - Netzwerks von Freundschaften, die während langer Stunden unter härtesten klimatischen Bedingungen geschweißt wurden, ist das vor allem eines: Das Gefühl, Teil von etwas Größerem, Gemeinsamem zu sein. Und die Gewissheit, dass der Chef allen hierarchischen Strukturen zum Trotz (und gerade in der Küche sind die traditionell ausgeprägt) letzten Endes vor allem auch ein Teil der Mannschaft ist.

Motivierendes Personalessen

Dass gerade das gemeinsame Mahl der Mannschaft eine Motivation dafür sein könnte, sich als Gastro-Hackler in Toprestaurants zu verdingen, vermutet Per-Anders Jörgensen, gefeierter Food-Fotograf sowie Gründer und Herausgeber von "Fool" (der wohl hinreißendsten - und international stilbildenden - Gourmetzeitschrift des neuen Jahrtausends): "Jeder Koch kann Horrorstorys erzählen, was für Abfall ihm in manchen Arbeitsstätten als Personalessen vorgesetzt wurde. Aber das ist vorbei: Personalessen ist ein so wichtiger Teil des Selbstverständnisses guter Restaurants geworden, dass tonangebende Kochausbildungsstätten es mittlerweile als eigenen Punkt der Ausbildung wahrnehmen." Im International Culinary Center von New York City etwa ist ein ganzer Monat der Ausbildung zukünftiger Topköche der Zubereitung von Personalessen aus günstigen Zutaten gewidmet.

Die Arbeit des Kochs ist von solcher Nervenanspannung geprägt, dass er ohne das Gefühl familiären Rückhalts kaum überleben könne: "Was sich durch alle Restaurants wie ein roter Faden zieht, ist die Konsequenz, mit der beim Personalessen auf klassische Rezepte der familiären Küche gesetzt wird", so Jörgensen. "Bohneneintopf, Reisgerichte, Ripperln - Gerichte, die auch die Seele nähren." Richtig gute Restaurants funktionieren längst als verschworene Gemeinschaft, in der jeder - wie in einer Familie - weiß, dass er sich auf die anderen verlassen kann. Das gemeinsame Mahl hat hier wie da prägenden Charakter.

"Eating with the Chefs"

Jörgensen hat daraus einen Prachtband von einem Kochbuch fabriziert, der die Personalessen in den besten Restaurants der Welt ins Zentrum rückt. Es ist nur konsequent, dass die Rezepte (siehe oben) dabei so aufgelistet sind, dass sie für zwei, für sechs, aber auch für 20 Esser funktionieren.

"Eating with the Chefs" nähert sich den Tempeln des feinen Essens über die Hintertür, dokumentiert das Schlachtfeld Küche ebenso wie die zärtlichen Momente beim Austüfteln der Speisekarte oder die Stille und glückliche Erschöpfung, die einkehrt, wenn das endlich letzte Dessert des Abends aus der Küche geschossen wurde.

Vor allem aber zeigt es, wie viel Emotion und Freundschaft in dieser Welt gelten, wie sehr die Idee der Gastfreundschaft in den wirklich guten Restaurants gelebt wird - bis hinunter ins letzte Glied. Bei Ben Shewry im Attica etwa, dem immerhin außerordentlichsten Restaurant Australiens, bekocht auch der Abwäscher und hoffnungsfrohe zukünftige Koch regelmäßig die Kollegen.

Essen ist Identität

Überhaupt ist der Zugang zum Thema oft ebenso verschieden wie die Ideen vom guten Essen selbst, die diese besten Restaurants der Welt verfolgen. Im Kopenhagener Noma etwa besteht Chefkoch Redzepi darauf, seine Stage-Köche aus allen Ecken der Welt das Personalessen zubereiten zu lassen. Nicht etwa nach dem Noma-Dogma unbedingter Regionalität, sondern ganz im Gegenteil: Redzepi ermuntert sie, möglichst solche Speisen zu kochen, "die sie mit ihrer Herkunft verbinden".

Essen ist schließlich Identität und damit ein ausgezeichneter Weg, etwas über neue Teammitglieder zu erfahren. Im katalanischen Celler de Can Roca kommt Bohneneintopf mit Stockfisch auf den Personaltisch, in Thomas Kellers kalifornischer French Laundry wird Schweinsschulter über Tage mariniert und stundenlang im BBQ-Smoker geräuchert, bevor es im Römertopf mit allerhand Gemüse fertiggeschmort wird. Alice Waters hingegen lässt im Chez Panisse aus Prinzip dasselbe servieren, was danach die Gäste bekommen. Das kann man als gar dick aufgetragene Mitarbeitermotivation verstehen. Andererseits erklärt die immer noch berühmteste Köchin der Vereinigten Staaten und Slow-Food-Vizechefin, dass sie "noch nie ein Problem hatte, motivierte Mitarbeiter zu finden". Im Gegenteil: "Ich habe extra ein zweites Restaurant aufgemacht, weil ich zumindest ein paar der wunderbaren Menschen, die bei uns ein Stage machen, länger um mich haben wollte."

Nun hat bekanntlich auch Mario Plachutta bereits mehrere Restaurants aufgesperrt - dass die Motivation auch nur im Ansatz eine Ähnliche gewesen sei, kann aber ausgeschlossen werden. (Severin Corti, DER STANDARD, 22.8.2014)