Schriftsteller Doron Rabinovici: "Der Holocaust war wie ein nuklearer Schlag. Danach liegt über allen Diskussionen ein radioaktiver Staub."

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STANDARD: Ein dieser Tage oft strapazierter Satz lautet: Man kann Israel nicht kritisieren, sonst gilt man gleich als Antisemit. Was halten Sie dem entgegen?

Rabinovici: Israel wird ständig, auch in den Vereinten Nationen, so heftig kritisiert wie kaum ein anderer Staat. Zumeist heftiger als jene Länder, die jene Verbrechen begehen, die Israel teils zu Unrecht vorgeworfen werden.

STANDARD: Welche Staaten sind gemeint?

Rabinovici: Ich will gar nicht von Syrien oder von Russland reden. Dieses Gegenrechnen ist obszön. Das sind ja keine olympischen Wettbewerbe. Israelische Politik wird - teils zu Recht - kritisiert. Was aber auffällt: Obwohl es so ist, wird getan, als wäre Israel sakrosankt, als könne man nicht sagen, was in Wirklichkeit klammheimlich gedacht wird.

STANDARD: Aber wenn man so mache Demo beobachtet, gilt doch das Gegenteil: Heute können Dinge gesagt werden, die vor einziger Zeit noch undenkbar waren.

Rabinovici: Der Antisemitismus, der nach 1945 in Europa tabuisiert wurde, findet bei radikalislamischen Parteien und Regimen eine neue Heimat. Im Windschatten des offenen Judenhasses gedeiht auch das verschämtere Ressentiment.

STANDARD: Also nichts aus der Geschichte, aus der Shoah gelernt?

Rabinovici: Schon, aber seit 1945 gibt es den sekundären Antisemitismus. Juden werden nicht trotz, sondern wegen Auschwitz gehasst. Sie sind zum Mahnmal der Schuldgefühle geworden, die viele hegen. Der Antisemitismus ist eine Welterklärung, sieht in dem Juden das eigentliche Übel der Welt und schreibt denen, die er hasst, eine unglaubliche Macht zu. Noch einmal: Das eine ist politische Kritik, das andere sind Ressentiments. Und antisemitische Gelüste sind noch vorhanden.

STANDARD: Ist dieser Antisemitismus entkoppelt vom Holocaust?

Rabinovici: Im Gegenteil - es wird nicht selten negiert, was den Juden angetan worden ist, um sich für neue Ressentiments freizuspielen. Seit dem Krieg in Gaza ist der Antisemitismus in Europa neu aufgeflammt. Es gab Demonstrationen, wo "Tod den Juden" geschrien worden ist, es gab gewalttätige Ausschreitungen, Attacken gegen Synagogen.

STANDARD: Kritik kommt auch von anderer Seite. Der Grüne Peter Pilz forderte Sanktionen gegen Israel.

Rabinovici: Ich unterstelle ihm keinen Antisemitismus. Mich wunderte nur, dass Pilz eigens darauf hinwies, einst habe er Sympathien für Israel gehegt. Jetzt nicht mehr? Warum ist es nicht möglich, Sympathien für beide Seiten zu hegen? Mein Geburtsland ist Israel, meine Familie rennt los, wenn die Sirenen heulen. Doch selbst für mich ist es möglich, Verständnis für die andere Seite aufzubringen. Gegenüber israelischen Wissenschaftern und Künstlern werden allerdings Boykottmaßnahmen gefordert. Niemand kam während des Jugoslawienkrieges auf die Idee, serbische Künstler zu boykottieren. Zu Recht. Oder jetzt bei der Ukraine? Das wäre doch Unsinn. Wer das tut, führt keinen Diskurs des Friedens, sondern verstärkt jenen des Krieges und der Hetze.

STANDARD: Der deutsche Soziologe Ulrich Beck sieht im Bezug auf die Kritik an Israel eine "Unfähigkeit, zu unterscheiden".

Rabinovici: Wir würden nie von "Österreich-Kritik" sprechen. Es hieße doch: "Ich kritisiere Österreichs Politik." Wir sagen auch nicht "China-Kritik". Diese Begriffe gibt es nicht. Alleine die Tatsache, dass wir pauschal über "Israel-Kritik" reden, zeigt die Unfähigkeit, zu unterscheiden: Der Diskurs über Israel hängt schief. Während die einen hinter jeder Kritik an israelischer Politik Antisemitismus sehen, glauben die anderen, jede Warnung vor Antisemitismus sei eine Rechtfertigung für die Regierung in Jerusalem. Kaum jemand hegt einfach Empathie für die Opfer beider Seiten. Wenn über Israel und die Juden geredet wird, herrscht das Irrationale vor.

STANDARD: Verteidigungsminister Gerald Klug hat auf ein STANDARD-Sommergespräch mit Ihnen verzichtet. Ist das Thema einfach zu heikel - also besser gar nicht anstreifen?

Rabinovici: Es wäre schade, wenn der Konflikt um Gaza der Grund für die Absage wäre. Die gesamte Debatte über den Nahen Osten ist kontaminiert. Der Holocaust war wie ein nuklearer Schlag. Danach liegt über allen Diskussionen ein radioaktiver Staub - sie sind vollgesogen mit dieser Materie.

STANDARD: Wie gelingt es, den Antisemitismus einzudämmen?

Rabinovici: Eine aufgeklärte Gesellschaft darf nicht zuschauen. Es wurden ja Leute auch angegriffen. Ich bin ohne Kippa und nicht-orthodox gekleidet unterwegs. Ich weiß nicht, wie das für diese Leute dieser Tage ist. Ist ein jüdisches Kind nicht sicher, dann sind letztlich auch die anderen Kinder nicht sicher. Diese Frage betrifft nicht nur die jüdische Gemeinde, sondern die gesamte Gesellschaft.

STANDARD: Was droht Europa?

Rabinovici: Der Antisemitismus ist eine Gefahr für unsere ganze Gesellschaft, für Europa, für jeden einzelnen Staat. Tritt man diesen Erscheinungen nicht entgegen, hat das eine enorme Sprengkraft. Die EU funktioniert nur als Antithese zu Rassismus, Antisemitismus und Nazismus.

STANDARD: Besonders dramatisch scheint die Situation in Frankreich zu sein.

Rabinovici: Islamistische Übergriffe einerseits, der Erfolg des Front National andererseits - das ist ungemütlich. Aber es ist kein französisches Sonderthema, sondern ein europäisches, auch ein österreichisches Phänomen.

STANDARD: In Israel geboren, in Österreich aufgewachsen: Ist man da mit Vorurteilen konfrontiert?

Rabinovici: Schon in meiner frühen Jugend. Da hieß es, mich hätten sie in Mauthausen vergessen, oder es wurden Stürmer-Zeichnungen von mir gemacht. Ich habe jedes Mal sofort reagiert - teilweise weniger differenziert als heute, dafür schlagkräftiger. (Peter Mayr, DER STANDARD, 21.8.2014)