"Es gibt eine Gruppe, wo man sagen muss: Da wird es zu viel", sagt Psychologin Pia Andreatta, die für das Österreichische Rote Kreuz Helfer im Gazastreifen und in Israel betreut.

Foto: Österreichisches Rotes Kreuz

Hinter der Hilfskräften, die sich im Gaza-Konflikt um Schwerverletzte kümmern müssen, liegen traumatische Wochen. Die österreichische Psychologin Pia Andreatta betreut seit etwa einer Woche im Auftrag des Österreichischen Roten Kreuzes mehr als hundert Mitarbeiter von Rotem Kreuz und Rotem Halbmond im Gazastreifen. Im Interview mit derStandard.at spricht sie über die psychologischen Folgen für jene Menschen, die oft hin- und hergerissen seien, zwischen der Pflicht, Verletzten zu helfen, und dem Impuls die eigene Familie in Sicherheit zu bringen.

STANDARD: Sie sind seit etwa einer Woche in Gaza und betreuen dort Helfer. Welche Probleme haben Sie im direkten Einsatz erlebt?

Andreatta: Die Helfer vor Ort haben sehr spezifische Belastungen, sie arbeiten unter einem großen Druck. Vor allem ist es natürlich das Gefühl, unter Bedrohung zu stehen. Es sind ja auch Mitarbeiter von uns ums Leben gekommen. Auch bei den Kämpfen in der Nacht auf heute wurde im Süden des Gazastreifens - Stand jetzt (Mittwochvormittag, Anm.) - ein Mitarbeiter verwundet bei dem Versuch, Menschen zu retten.

STANDARD: Was sind die psychologischen Folgen für die Helfer?

Andreatta: Was ich feststelle, sind das ganz spezifische Belastungssituationen: Sie kennen alle die Bilder aus den Medien - diese sehen die Helfer jeden Tag direkt vor sich. Oft lässt es aber die Gefahrensituation nicht zu, direkt an den Ort des Geschehens zu fahren. Das bedeutet, dass sie manchmal das Gefühl haben, sie könnten helfen, aber sie dürfen nicht. Es gibt Fälle, da haben sie über Telefon zuerst Hilferufe gehört, dann Raketengeräusche. Sie wollten fahren, sie wollten helfen, sind aber gestoppt worden. Und später konnten sie nur noch die Toten bergen.

STANDARD: Was bedeutet das für jene, die selbst aus Gaza sind?

Andreatta: Eine besondere Belastung ist jene, dass sehr viele zu Hause Familien haben. Sie bekommen die Kämpfe mit, sie sind für die Organisation im Einsatz, und sie wissen in dieser Zeit nicht, wie es ihren Familien geht. Sie sind hin- und hergerissen, zwischen Hilfe und dem Impuls, alles liegen und stehen zu lassen. Für viele ist das jetzt außerdem der dritte Krieg. Die Szenen von Tod, Zerstörung und Verletzungen sind mittlerweile kumulativ. Sie haben schon ein schweres Paket angesammelt.

STANDARD: Eine Art traurige Routine gibt es also nicht?

Andreatta: Die gibt es schon auch. Die Leute sind sehr erfahren und haben ihre Schutzmechanismen. Aber dieser Krieg jetzt, sagen sie, übersteigt das, was sie kannten. Einige gehen in einen Modus von wenig Hoffnung, machen ihre Arbeit weiter. Und es gibt eine andere Gruppe von Helfern, wo man sagen muss: Da wird es zu viel.

STANDARD: Was können Sie da tun?

Andreatta: Das eine ist, dass ich zu den Teams gehe und mir anschaue, wo dieses Team die Tätigkeit noch machen kann. Das andere sind Informationsveranstaltungen. Für viele ist es ein Problem, wie mit Kindern im Krieg umzugehen ist. Ich führe Einzelgespräche und mache notfallpsychologische Interventionen.

STANDARD: Was sind typische Reaktionen?

Andreatta: Vor allem klassische Stressreaktionen: Verlust des Zeitgefühls; der Eindruck, nicht schnell genug gehandelt zu haben. Oder eben wiederkehrende Bilder. Viele haben eine Übererregtheit. Bloß informiert zu sein, dass alle diese Reaktionen auf abnormale Ereignisse normal sind, das ist für viele schon ein Schlüssel.

STANDARD: Lassen sich die Helfer denn überhaupt empfehlen, Pausen zu machen und dann nicht zu helfen?

Andreatta: Ich habe erwartet, dass das schwierig wird. Im Moment ist es aber so, dass die Leute selbst kommen und sagen: Ich kann nicht mehr. Gerade bei der Traumabehandlung braucht es oft einfach eine Erholungsphase.

STANDARD: Helfer sind - so wie auch die Opfer - stärker als in anderen Situationen ganz besonders oft damit konfrontiert, Bilder in den Medien immer wieder sehen zu müssen, wenn der Einsatz vorbei ist.

Andreatta: Die Bilder, die Helfer über die Medien sehen, sind eine Zusatzbelastung. Sie müssen sich zeitweise aktiv bemühen, das TV auszuschalten und sich nicht um neue Informationen zu kümmern. Es wird sonst ein Zuviel an Konfrontation. Das ist aber eine Konsequenz, die viele auch von selbst ziehen. Es gibt aber auch jene, die nicht mehr abschalten können, die an freien Tagen das Gefühl haben, immer über die Medien verbunden bleiben zu müssen.

STANDARD: Sie sind ja auch selbst am Ort des Geschehens: In unserem Interview wurden wir soeben von Detonationen unterbrochen. Wie gehen Sie damit um?

Andreatta: Ich habe mich bis jetzt gut bei Kräften gefühlt. Ich muss aber auch sagen, dass die neuerliche Unterbrechung der Waffenruhe für mich großes Bedauern auslöst, und für die Betroffenen eine neue Erschütterung. Die Nächte sind sehr unruhig, man hört Raketen und Einschläge, teilweise in unmittelbarer Nähe. Es zittert dann das ganze Haus. Man merkt, dass man zu keinem Moment mehr volle Entspannung finden kann. Aber was wir im Vergleich zu den Leuten hier in Gaza natürlich haben: Wir wissen, dass wir wieder aus dem Gebiet hinauskönnen. (Manuel Escher, DER STANDARD, 21.8.2014)