Warum sind - wie das österreichische Bundesamt für Verfassungsschutz angibt - 100 junge Menschen im Irak und in Syrien, um dort in den Reihen der Al-Nusra-Front oder der Miliz "Islamischer Staat" zu kämpfen? Was hat es mit dem Phänomen des Jihadismus auf sich? Und warum übt der bewaffnete Kampf gerade auf junge Menschen, besonders Konvertiten und hier in Europa geborene Muslime und Musliminnen eine derartige Anziehungskraft aus?

Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit auf diesem knappen Raum eine exemplarische Anekdote zu Beginn: Im Ramadan trifft ein Lehrer auf einen 15-jährigen Burschen. Dieser steht draußen vor einem Veranstaltungsraum einer religiösen Veranstaltung. Der 30-Jährige nimmt das Gespräch mit dem Burschen mit Flauschbart auf. Stolz verweist der darauf, in jedem Fach in seinem ersten Jahr an der Handelsakademie ein Negativ eingefahren zu haben, sogar in (islamischer) Religion. Wie es ihm mit dem Fasten gehe, fragte der Lehrer, worauf der Bursch antwortete, dass ihm das "zu anstrengend" sei. Schließlich sei er gerade auf einer Demonstration "für Gaza gegen Israel" gewesen. Dort habe er mit seinen Freunden protestiert. Bald erzählt er über seine Heroes, die Terrormiliz "Islamischer Staat", die sich für seine Brüder einsetze. Was er gerne mache? Nach Wien gehen, wo er eine bestimmte Moscheevereinigung aufsuche.

Der Bursch kommt aus keinem religiösen Milieu. Seine Eltern stammen vom Balkan, sind in einem kommunistischen Regime aufgewachsen und haben wie viele andere keine religiöse Erziehung genossen. Der Jugendliche selbst bekundet auch, das fünfmalige islamische Gebet nicht einzuhalten. Damit entspricht der Bursche einem ganz speziellen Typus, der sich vom Phänomen des globalen Jihadismus angezogen fühlt.

Bereits der Islamismus, verstanden als der politisierte Islam, wurde als entwurzeltes Produkt der Moderne betrachtet, die jede Kontinuität mit der traditionellen islamischen Gelehrsamkeit durchtrennt. Er sei ein Nebenprodukt der Moderne, so manche Analytiker, der die Muslime und Musliminnen religiös entwurzelt habe und über den Umweg der Moderne manche Muslime wiederfinde.

Kämpfer mit Joint

Der Jihadismus, so scheint es, geht hier noch ein Stück weiter. Er ist kein Produkt der Moderne wie der klassische Islamismus des 20. Jahrhunderts. Er ist eingebettet in ein postmodernes Geflecht hybrider Identitäten. Zur Entwurzelung und Politisierung kommt die Gleichgültigkeit hinzu, die Gleichzeitigkeit sich diametral widersprechender Identitätsbausteine. Ein Wiener Imam drückte es so aus: "Nicht mehr lange und die kiffenden Kids aus den Metropolen werden an vorderster Front des 'Islamischen Staates' kämpfen, während sie an ihrem Joint ziehen."

Die Anhänger dieser Subkultur sind nicht gebildet. Sie ziehen sich nicht zurück, um stundenlang die Werke klassischer Islamisten zu studieren, geschweige denn zu diskutieren. Sie sehen sich Kurzvideos auf Youtube an mit kurzen Statements, nicht mit Vorträgen. Sie beten und fasten nicht und kämpfen gegen die "Ungläubigen". Sie lesen keine leninistisch klingenden Islamisten, sondern tragen T-Shirts mit IS-Logo und hören jihadistische Rap-Musik.

Subversive Elemente

Wie viele andere Jugendkulturen, die subversive Elemente in sich tragen, ist auch die Jugendkultur des globalen Jihadismus gegen den Westen gerichtet, wobei sie sich in der Praxis im Sinne des postmodernen Paradigmas von jeder Eindeutigkeit verabschiedet hat.

Diese Jugendkultur, der sich vor allem junge Männer zugezogen fühlen, verspricht maskuline Identifikationsbilder: starke Krieger mit Waffen, die töten. Sie verspricht jener Schicht junger Menschen Macht, die sich angesichts rassistischer Ausgrenzung, mit der sich viele junge Muslime und Musliminnen oft herumschlagen müssen, ohnmächtig fühlen.

Dieser Jugendkultur kann damit nur bedingt über "den Islam" entgegengetreten werden. Muslimische Vereinigungen mögen in einem präventiven Sinne diesen jungen Menschen ein anderes Angebot machen wollen. Die eigentliche Herausforderung aber liegt im bildungspolitischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Bereich.

Es braucht sinnstiftende Visionen, die diesen Menschen das Gefühl vermitteln, dass sie unabhängig vom sozioökonomischen Status ihrer Eltern etwas aus sich machen können. Es braucht ein Europa, indem sie als gleichberechtigte Menschen unabhängig von ihrer imaginierten Ethnizität oder Religionszugehörigkeit akzeptiert werden. Es braucht ein Europa, in dem die Nichtdiskriminierung gelebte Wirklichkeit ist und nicht mit Leichtigkeit von Arbeitgebern umgangen wird. Die Jugendkultur Jihadismus in Europa ist ein Produkt und Problem Europas, dem Europa etwas entgegenhalten muss. (Farid Hafez, DER STANDARD, 22.8.2014)