In 15 Minuten von Bratislava-Kittsee nach Bratislava-Zentrum.

Foto: Standard/Fischer

Eisenstadt - Das Burgenland ist als Ganzes ein Grenzfall. Fast mehr noch als Vorarlberg atmet das langgezogen-schmale Land seit jeher mit seinen Nachbarn. Das ist nicht immer einfach - oft fehlte und fehlt der Takt, dann wird eher um Luft gerungen -, aber unumgänglich. Denn es ist keine Frage irgendeines politischen Wollens, sondern schlicht die historische Wucht der Geografie, dass das Burgenland seit einem Vierteljahrhundert allmählich wieder zu seinen vier namensgebenden Burgen - Pressburg/Bratislava, Wieselburg/Moson, Ödenburg/Sopron, Eisenburg/Vasvár - fand und weiterhin findet.

Stadtflüchtlinge aus Bratislava

Und umgekehrt, wie sich zum Beispiel in Kittsee ganz gut beobachten lässt, das von immer mehr seiner Bewohner auch Kopcany genannt wird, wie das ungarische Köpcsény seit jeher von den Slowaken genannt wird. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Gemeinde auf mehr als 3000 Einwohner verdoppelt, ein Drittel davon sind Stadtflüchtlinge aus Bratislava; junge Familien, die von hier wenig mehr als eine Viertelstunde brauchen ins Stadtzentrum von Pressburg.

In den vergangenen zwei Jahren war Kittsee mit einer Rate von mehr als zehn Prozent jeweils Österreichs schnellstwachsende Gemeinde. Mit all den knirschenden Verwerfungen, die so ein explosionsartiges Wachstum mit sich bringt. Gabriele Nabinger, Chirurgin am örtlichen Krankenhaus und seit 2012 SPÖ-Bürgermeisterin, war selbst überrascht, wie viel Geld die Gemeinde da in die Hand nehmen muss. Das infrastrukturelle Aufschließen zweier Siedlungsgassen "kostete 1,5 Millionen". Der Kindergarten platze aus allen Nähten, sieben Gruppen plus die Krippe brauche man, "der Neubau macht 3,5 Millionen". Aber "die eventuell dann erhöhten Bedarfszuweisungen gibt es dann erst zwei Jahre später".

Wachstumsschmerzen

Die Wachstumsschmerzen teilt Kittsee mit einigen Orten der Twin-City-Region. In Neusiedl am See und Parndorf sind es Wiener Aussiedler, die ähnliche finanzielle Herausforderungen verursachen. Gabriele Nabinger würde sich ein gemächlicheres Tempo wünschen, aber bei einer Widmungsquote von 40 Prozent - 40 Prozent des möglichen Baulandes wurde von den Vorgängern bereits umgewidmet - lässt sich nicht mehr viel machen. Der Quadratmeterpreis stieg von 60 auf 150 Euro.

Nabinger verwaltet, sagt sie, ein recht blauäugiges Erbe. Nicht einmal eine Dorfplanung hat es gegeben. "Jetzt können wir uns nur über die Bauordnung helfen." Die Mindestbaugrundgröße ist jetzt 500 Quadratmeter, nur noch ein Stockwerk darf draufgesetzt werden, was die Baulust der Genossenschaften ein wenig bremsen wird.

Kittsee wird gleichwohl weiter wachsen. Richtung Bratislava, dessen Vorort es fraglos längst schon geworden ist. Im Stundentakt fährt der Zug in die Stadt. Jetzt überlegt man - wie drüben im niederösterreichischen Wolfsthal - den Anschluss ans innerstädtische Bussystem über die alte Pressburger Straße, die alte wirtschaftliche Schlagader von Kittsee, das ohne Zweifel längst damit begonnen hat, im Rhythmus von Bratislava zu atmen. So wie die alten Kittseer mit Pressburg geatmet haben. Beziehungsweise Pozsony. Denn die Kittseer waren ja Ungarn bis 1921. Kroatische halt die meisten.

Sprache nicht einzige Trennlinie

Klar spießt es sich auch beim Integrieren der Neu-Kittseer. Im Kindergarten und in der Schule wird sehr bewusst nur Deutsch geredet. Aber da gibt es ohnehin die geringsten Probleme. Die Volksschule bietet auch den Familien einschlägige Angebote. "Etwa mit der Aktion Vater, Mutter, Kind lernen Deutsch." Die Sprache sei aber nicht die einzige Trennlinie. "Die meisten sind ja Großstädter." Picknick im Schlosspark, nur zum Beispiel - für das alte Kittsee ist das immer noch sehr gewöhnungsbedürftig.

Ein Gewöhnungsbedürfnis, das man in Kalch ganz gerne hätte. In jenem kleinen Dörfchen im südlichsten - man kann ruhig auch sagen: untersten - Burgenland, dessen Berühmtheit sich von Kittsee ableitet. Beschreibt einer nämlich das Land in seiner Gesamtheit - sagt er also, das Burgenland sei als Ganzes ein Grenzfall - so alliteriert er gerne: von Kittsee bis Kalch.

Ärmste Gemeinde

Kalch ist der Wohnort von Werner Sampt. Der macht für die ÖVP den Bürgermeister in Österreichs ärmster Gemeinde, in Neuhaus am Klausenbach, zu der Kalch gehört. Hier ist nicht bloß ein Dreiländereck, hier lehnen drei Staaten arschlings aneinander. Es bleibt einem gar nichts anderes übrig, als die infrastrukturellen Defizite als Angebotspalette eines sanften Tourismus schönzureden. Werner Sampt ist Obmann des grenzüberschreitenden Naturparks Raab-Orség-Goricko. "Viele, die hierherkommen, sagen: Da schaut's aus wie in der Toskana."

Das ist freilich nur für den Besuch ein gutes Argument. Als Eingeborener wird man dieser Toskana bald überdrüssig. Arbeitsmöglichkeiten gibt es nicht, die Jungen ziehen weg, die mit ähnlichen Problemen kämpfenden Nachbarn siedeln sich auch nicht an. Sie pendeln auch nicht her. Sondern durch. "In Bonisdorf beim ehemaligen Grenzübergang nach Slowenien gibt es eine Art Park-and-ride. Von hier fahren die Pendlerbusse nach Graz, sogar bis Wien."

Sauerstoffpatient

Die Pendelorientierung ist es wahrscheinlich auch, die das Interesse an den Nachbarn hat abflauen lassen. "Die Jungen interessiert das nicht mehr so stark." Sie kennen den Vergleich nicht zu jener langen, bleiernen Zeit, in der gerade das Burgenland sich durchs Leben geschleppt hat wie ein Sauerstoffpatient. Hier herunten, wo

Peter Handke einst den Josef Bloch mit seiner Tormannangst vor dem Elfmeter die Sprachgeläufigkeit verlieren ließ, ganz besonders.

In Bildein ist die Verlassenheit nicht viel anders. Aber hier kämpft man seit vielen, vielen Jahren noch um ein bisschen Würde im Leben an der neuen Grenze. Oft und oft tut man das - glaubt man dem ÖVP-Bürgermeister Walter Temmel - gegen die da oben in Wien und auch in Eisenstadt. "Dorf ohne Grenze" nennt sich Bildein. Walter Temmel, der auch im Bundesrat sitzt, pflegt eine umtriebige, ja offensive Nachbarschaftspolitik mit dem deutschsprachigen Pornóapáti/Pernau und dem kroatischen Szentpéterfa/Petrovo Selo/Prostrum.

Lebensfähigkeit

Das hat nicht nur, aber schon auch, mit einem tiefen historischen Verständnis zu tun. Walter Temmels Bruder hat eine Diplomarbeit geschrieben über die Gegend nach dem Ersten Weltkrieg. Der Titel der Arbeit ist ein Zitat aus einem Brief der Bildeiner an den Völkerbund: "Ohne Szombathely", schreiben sie, "können wir nicht leben."

Sterben aber auch nicht. Mit dem immer noch aktuellen Zwischenzustand, dem Weiterwursteln, hat Szombathely allerdings nichts zu tun. Das ist schon eher hausgemacht. Die Schulgeschichte ist nur ein Hinweis darauf. Und der selbstverwaltete Busverkehr, der Stremtal und Pinkaboden mit Güssing und Oberwart verbinden wollte, aber auch mit Szombathely, verlor 2010 die Förderwürdigkeit. (Wolfgang Weisgram, DER STANDARD, 27.8.2014)